Die Episode zeigt, wie unglaublich ideologisch aufgeladen diese Zeit noch immer, 90 Jahre danach, ist. Tatsächlich spricht auch die ÖVP längst nicht mehr von „Selbstausschaltung“ und hat zu einer differenziert-kritischen Bewertung des christlichsozialen „Ständestaat“-Kanzlers gefunden. Für ein gemeinsames Gedenken von ÖVP und SPÖ reicht es dennoch nach wie vor nicht. Jede der beiden Parteien hat ihr eigenes Narrativ.
Exemplarisch lässt sich der Unterschied am Begriff des „Austrofaschismus“ aufzeigen: Für die Sozialdemokratie und ihr ideologisches Umfeld ist er die bevorzugte Bezeichnung für die Jahre von 1933 bis 1938, wodurch eine „faschistische“ Kontinuität der Zeit bis zum Ende der NS-Diktatur 1945 nahegelegt werden soll. Seitens der ÖVP bzw. des bürgerlichen Lagers wird demgegenüber die Zäsur des Jahres 1938 hervorgestrichen und auf die Gegnerschaft der damaligen Christlichsozialen zum Nationalsozialismus hingewiesen (einschließlich der Ermordung von Dollfuß durch NS-Putschisten).
Jahrzehntelang war die österreichische Innenpolitik stärker durch diese Gegensätze bestimmt als durch die Debatte über die Zeit des Nationalsozialismus. So wurde etwa seitens der SPÖ immer wieder auf das in den Räumlichkeiten des ÖVP-Klubs hängende Dollfuß-Bild verwiesen, um die demokratiepolitische Glaubwürdigkeit der Volkspartei in Zweifel zu ziehen. Das Bild hängt nicht mehr dort – und tatsächlich ist klar, dass Dollfuß kein Vorbild für heutige Politiker, auch nicht für bürgerlich-konservative sein kann.
Das können Politiker, Regierende früherer Zeiten freilich generell nur bedingt: zu unterschiedlich sind die jeweiligen historischen, politischen, geistig-kulturellen Umstände, aus denen heraus und innerhalb derer sie agiert haben. Einzig aus diesen Umständen heraus aber kann versucht werden, historische Persönlichkeiten angemessen zu verstehen und zu bewerten. Wobei „verstehen“ nicht heißt, alles zu „rechtfertigen“ oder gar gutzuheißen. Vor dem Überstrapazieren geschichtlicher Analogien sollten sich jedenfalls Parteien jedweder Couleur hüten.
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