"Bisher noch nicht mal geweint": Wie Betroffene nach Erdbeben weitermachen

"Bisher noch nicht mal geweint": Wie Betroffene nach Erdbeben weitermachen
Mehr als eine halbe Million Menschen versucht nach der Naturkatastrophe, woanders neu zu anzufangen -KURIER hat eine davon getroffen

"Ich hatte kaum Zeit, etwas zu fühlen. Ich habe bisher noch nicht mal geweint", antwortet Azra Beyza Devran mit ruhiger Stimme auf die Frage, wie es ihr geht. Sie ist eines von Millionen Menschen, deren Leben das Erdbeben für immer verändert hat. "Es begann auf einmal alles zu wackeln. Es wurde hell und knallte so laut, als hätte eine Bombe eingeschlagen", erinnert sie sich an die ersten Minuten der Naturkatastrophe in der türkisch-syrischen Grenzregion zurück.

"Überall war Blut"

Mit Mühe und Not schafften es die 20-Jährige und ihre Mutter aus der Wohnung. Devran trat die versperrte Tür auf. "Ich glaube, ich habe mir dabei das Bein verletzt. Deshalb sind wir danach gleich ins Krankenhaus." Dort angekommen, realisierte sie die Lage: "Meine weißen Schuhe waren komplett rot. Überall war Blut."

Die nächsten Tage über suchten Mutter und Tochter Freunde und Familie, sahen nach ihren Häusern. Die Wohnung der beiden steht noch, ist aber beschädigt. Der Arbeitsplatz ihrer Mutter, sie hatte einen Schönheitssalon, ist nicht mehr betretbar. Viele geliebte Menschen sind tot.

"Schlimmer als Krieg"

Als sie all das, knapp einen Monat nach den verheerenden Erdbeben, dem KURIER erzählt, wirkt sie nüchtern und distanziert. Fast als wäre es nicht ihr Leben, das sich schlagartig verändert hat.

Devran ist geboren und aufgewachsen in Adıyaman – der Provinz, die nach Hatay wohl am stärksten von den Erdbeben betroffen war. Als die Erde dort bebte, war die Studentin gerade auf Familienbesuch dort. Ahnen konnte sie nicht, dass die Provinz Sakarya im Norden, wo sie zuvor studiert hatte, schon bald zu ihrem dauerhaften Wohnsitz werden würde.

"Bisher noch nicht mal geweint": Wie Betroffene nach Erdbeben weitermachen

In der kleinen Küstenstadt Karasu (circa 1100 Kilometer von Adıyaman entfernt) hat sie seit nun drei Wochen einen Job bei einer Immobilienagentur. Dabei studiert sie eigentlich Seefahrt. "Mir war es aber wichtig, hier schnell eine Arbeit zu finden und Geld zu verdienen", sagt Devran. Kurz nach dem Erdbeben zog auch ihre Mutter zu ihr nach Karasu. "Wir haben echt Glück, dass wir eine Wohnung zur Verfügung gestellt bekommen haben", sagt sie.

Rund 1400 Erdbebenopfer sind in der etwa 55.000 Einwohner zählenden Stadt untergekommen. Laut der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD wurden mehr als eine halbe Million Menschen durch die Erdbeben zu Binnenflüchtlingen. "Die meisten, die ich kenne, sind auch woanders hin. Entweder in Orte, wo sie jemanden kannten, oder in Herbergen, welche Gemeinden zur Verfügung gestellt haben", erzählt die 20-Jährige.

Keine Rückkehr

Im Erdbebengebiet zu leben, sei derzeit kaum möglich. Noch immer mangele es in betroffenen Gebieten an Zelten, Sanitäranlagen oder Zugang zu Trinkwasser. 18.000 Menschen, die ursprünglich aus Syrien in die Grenzregionen der Türkei geflohen waren, haben sich laut offiziellen Daten wieder auf den Heimweg gemacht. "Das ist hier schlimmer als im Krieg", wurden einige in türkischen Medien zitiert.

Für Devran und ihre Mutter steht auch fest, dass es nun länger kein Zurück nach Adıyaman geben wird. "Wir sind sehr dankbar für die Hilfsbereitschaft der Menschen hier", sagt sie.

Dass in der Küstenstadt verhältnismäßig viele Erdbebenopfer untergebracht sind, dürfte daran liegen, dass der Ort viele Sommer- und Ferienwohnungen beherbergt. Diese stellen viele nun Menschen, die kein zu Hause mehr haben, zur Verfügung. Ein weiterer Faktor – das finden zumindest die Einheimischen – ist, dass man gut nachvollziehen kann, was solch eine Erdbebenkatastrophe bedeutet. Das letzte große Beben in der Türkei hatte sein Epizentrum nämlich nicht weit von der kleinen Stadt an der Schwarzmeerküste entfernt – im Jahr 1991 starben beim Beben in Gölcuk 17.000 Menschen.

Kommentare