Strandbesuch mit Dino: Wieso Südengland auch im Winter eine Reise wert ist
„Hier, schau mal, könnte das einer sein?“, Liz Payne deutet auf den großen hellgrauen Brocken im Meeresboden. Ihr Ehemann Paul geht in die Knie, fühlt die Oberfläche des Steins. Dann nickt er, richtet sich auf und holt mit dem Hammer aus.
Wenn die Luft in England so kalt wird, dass selbst die härtesten Briten zum Meeresschwimmen ihre Pudelhauben aufsetzen und die Sonne nur als fahle Scheibe schräg am Himmel steht, dann zieht es eine Gruppe Briten in Südengland aus einem anderen Grund ans Meer. Sie kommen nicht mit Neoprenanzug und Schwimmschuhen, sondern mit Hammer und Kübel.
152 Kilometer Jurassic Coast
Denn auf den 152 Kilometern zwischen Orcombe Point im Westen und den Old Harry Rocks im Osten brandet das Meer nicht nur malerisch gegen Bucht. Dieser Küstenabschnitt bietet auch eine eindrucksvolle Zeitreise, für die er von der UNESCO zur Natur-Welterbestätte erklärt wurde. Sein Name – Jurassic Coast – lässt rasch erahnen, was es hier zu entdecken gibt.
Niedliche Badehütten in Lyme Regis.
Die Erkundung beginnt im Küstenort Sidmouth in Ost-Devon, der in der Regentschaftszeit ein begehrter Badeort der Adeligen war. An herrschaftlichen Villen, von denen der Verputz abblättert, geht es Richtung Strand. Überrascht blickt man hier auf die Klippen, die vom starken Eisengehalt rostrot gefärbt sind. Bei genauerem Hinsehen erkennt man runde rote und rosafarbene Steine, die in der Felswand stecken. Sie waren Teil eines Flussbetts; die andere Seite befindet sich in der Bretagne. Denn der Fluss existierte vor 250 Millionen Jahren.
Zwischen Stein und Sand findet man hier deshalb mit etwas Glück: Ammoniten, Reptilienknochen, Dinosaurierfossile. Erst im Juli konnte der 22-jährige Student Benjamin Weston während einer Exkursion das 145 Millionen Jahre alte Kiefer einer neuen Spezies entdecken.
Neue Spezies entdeckt
Am beliebtesten für die Fossilsuche ist Charmouth Beach, ein weiter Strand etwas weiter östlich als Sidmouth vor einem niedlichen Dorf, an dem auch Liz und Paul Payne an diesem kühlen Herbsttag unterwegs sind. Der Stein, den Liz als mögliches Fossil ausgemacht hat, war eine Fehlanzeige. Und so wandern sie weiter.
Die Paynes suchen mittlerweile hauptberuflich.
Für die Paynes ist die Suche kein Hobby mehr: Vor sechs Jahren haben sie ihre Zelte in London abgebaut, um sich im englischen Süden hauptberuflich ihrer Leidenschaft zu widmen. Die Fotos ihrer fein geputzten Funde – zuletzt etwa ein vom Meer abgeschliffener Androgynoceras – erhalten auf ihrem Facebook-Blog Tausende Likes und die Fossilien selbst finden um Hunderte Euro neue Abnehmer.
Doch wenn wir über berühmte Fossiliensucher sprechen, darf eine Person nicht vergessen werden. Um zu ihr zu gelangen, geht es von Charmouth zu Fuß eine Stunde nach Westen. Zur „Perle von Dorset“, an den Küstenort Lyme Regis.
Die Fossilienpionierin
Am historischen Hafen The Cobb mit Fish und Chips oder einem Fudge-a-saurus (die Wortspielliebe der Briten macht vor nichts Halt) von Roly’s Fudge Pantry gestärkt, folgt man der Strandpromenade zum Church Cliff Walk. Auf halbem Weg steht die Statue einer energisch schreitenden jungen Frau. Hammer in der einen, Fossil in der anderen Hand.
Die Staue von Mary Anning in Lyme Regis.
Um 1800, in einer Zeit der scharfen Klassen- und noch schärferen Geschlechterunterschiedeavancierte die Britin Mary Anning zu einer der bedeutendsten Paläontologinnen des Landes. Sie liebte es, ihren Vater bei der Fossilsuche zu begleiten. Doch er starb, als sie noch ein Kind war. Von da an sicherte ihre Entdeckungsarbeit der Familie künftig das Überleben.
Bereits im Alter von zwölf Jahren fand sie das fünf Meter lange Skelett eines Ichthyosauriers. Später das erste vollständige Skelett des bizarren Plesiosauriers sowie die ersten, in England bekannten Überreste eines Pterosauriers, dem größten, jemals existierenden Flugtier.
Eine alte Erinnerung
Aber wie findet man eigentlich Fossile? „Man sollte“, sagt Phil Davidson, zurück im Heritage Coast Centre in Charmouth, „unbedingt auf die Gezeiten achten.“ Denn am einfachsten ist die Fossilsuche, wenn die Ebbe den Meeresboden freigelegt hat.
Außerdem: „Halten Sie sich von den Klippen fern.“ Sie könnten jederzeit einbrechen; noch einmal schneller, wenn man Steine aus ihnen herauszieht. Vielmehr sollte man nach grauen Kalksteinen am Boden Ausschau halten. Und dann: toit, toi, toi.
Der Abdruck eines Ammonits.
Also pilgert man wenig später selbst mit gebeugtem Kopf über den Strand. Die Augen nicht mehr auf den weiten Horizont gerichtet, sondern auf den Boden vor sich. Schon bald sieht man den Boden vor lauter Steinen nicht mehr, der Wind bläst durch den Anorak und man kommt sich albern vor.
Doch gerade als man beschließt, sich bei Schwarztee und Scones im Kaffeehaus aufzuwärmen, sieht man im Boden die feinen Linien einer Millionen Jahre alte Erinnerung. Der Abdruck eines Ammonits. Und auf einmal ist die Kälte wie weggeblasen.
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