Der Blick auf Unbekanntes erscheint mir als eine der Möglichkeiten, mein Leben neu zu ordnen, um mich vor der Müdigkeit zu bewahren. Wie oft habe ich fremde Länder bereist? Für diesmal habe ich mir vorgenommen, innerhalb der Grenzen zu bleiben. Erschien mir das Vertraute bislang nicht interessant genug? Die Neugier beginnt vor der eigenen Haustüre. Nicht die Geografie entscheidet, die Seelen der Menschen bestimmen Fremde. Oder Nähe.
Vom Inn bis zum Böhmerwald, vom Sengsengebirge bis ins Salzkammergut
Oberösterreich! Beinahe ein ganzes Jahr lang war ich unterwegs. Was für eine Lust, eine Welt zu erkunden, die aus vier Vierteln besteht, dachte ich. Ich sollte recht behalten. Hausruck-, Inn-, Traun- und Mühlviertel gleichen in ihrer Vielfalt einem Kaleidoskop, das Funkeln für denjenigen bereithält, der zu erkennen vermag. Vom Ufer des mächtigen Inn bis zum Böhmerwald, vom Sengsengebirge bis ins Salzkammergut, von den Gestaden des Traunsees bis zum Naturparadies Schlögener Schlinge – auf meiner roten Vespa brauste ich durch alle Regionen. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Die Schönheit der Landschaft ergibt sich aus der harmonischen Verbindung von majestätischen Berggipfeln und sanften Hügeln, von endlosen Ebenen bis hin zu ruhigen Gewässern – die Vielfalt der Natur und die Einzigartigkeit der Topografie formen eine Kulisse, die Staunen macht.
Wie viel Neuland durfte ich betreten, und wie oft verlor ich mich in Lebensentwürfen? Herzenswärme und Humor zeichneten meine Begegnungen aus. Mal waren es Zufälligkeiten, die das Leben meiner Gesprächspartner beeinflussten, mal das bewusste Erkennen des Augenblicks. Wie Prismen unterschiedlicher Farben und Formen fügten sich meine Polaroidaufnahmen zu einem Ganzen und ergaben das Identitätsdiagramm eines Landes. Ich befüllte einen Zettelkasten der besonderen Art – mit Unbekanntem, Überraschendem, Verborgenem.
Die Welt rund um mich betrachtete ich wie ein Gemälde, achtete auf die Schattierungen der Gedanken, und warf einen Blick hinter den Horizont von Geschichten. Wie ein Schmetterlingsjäger sammelte ich Beiläufigkeiten, Worte, Gesten. Aus all dem ergaben sich Bilder, die sich zu einer Welt neuen Seins zusammensetzten. Aus der Vielfalt der Unterschiedlichkeiten erschloss sich mir die Seele eines Landes: Die des Tierpräparators Höller, in dessen Dachboden Thomas Bernhard seinen Roman „Korrektur“ schrieb, die der kapriziösen Holzkünstlerin Annerose R., die mit der Kettensäge Puppen schnitzt, die des Bäckermeisters, der eine Wunderkammer voll mit Brotkunstwerken besitzt, die des Riesen, der so groß war, dass er die Welt zu seinen Füßen nicht mehr sah, die der Frau, die auf ihrer Toilette ein Schiffsmuseum betreibt und über den Sinn des Scheiterns nachdenkt, die des Lehrers, dessen Name zur Vokabel wurde und der lateinische Verse in oberösterreichische Mundart übertrug, und die des Linzer Dom-Eremiten, der sich zu meiner großen Verwunderung als der Autor selbst, also ich, entpuppte.
„Alter ist ein Geschenk, wenn man nicht vergessen hat, was Anfangen heißt“, sagt der Philosoph Martin Buber. Wie immer am Beginn einer Reise war ich aufgeregt und fühlte mich jung. Oberösterreich zu bereisen, heißt, seine Bewohner verstehen und lieben zu lernen. Wahrscheinlich ist es das, das mich antreibt und wonach ich mich sehne: das Herzklopfen. Ich wollte ein Buch über ein Land schreiben. Ich schrieb eines über Menschen.
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