Eines der letzten Matriarchate: die Bijagós-Inseln in Guinea-Bissau

Frauen beim Wassertragen auf der Insel Orango
Die Menschen auf den Bijagós-Inseln haben die Zwänge der modernen Welt lange erfolgreich von sich ferngehalten. Bis heute herrscht dort ein Matriarchat.

Zusammenfassung

  • Die Bijagós-Inseln in Guinea-Bissau sind bekannt für ihr Matriarchat und kulturelle Eigenständigkeit.
  • Die Globalisierung wird zum zunehmenden Problem.

Plötzlich hat der Bus sein Ziel erreicht. Quinhamel heißt der kleine Küstenort, von dem aus die Überfahrt beginnen soll. Doch ein Anleger oder gar Hafen ist nirgends zu entdecken. Stattdessen wanken wir auf kippeligen Holzplanken durch den Uferschlamm in Richtung einiger einsam vor sich hin dümpelnder Motorboote. Die Mittagshitze ist einigermaßen unerträglich, nirgendwo Wind, der für Erleichterung sorgt. Man könnte das eine Autostunde von der Hauptstadt Bissau entfernte Küstendorf für das Ende der Welt halten, doch in Wirklichkeit fängt das Ende der Welt hier offenbar erst an. Von Quinhamel zu unserem Zielort Orango bedarf es noch einmal einer mehr als vierstündigen Bootsfahrt. Die Tour führt durch ein Archipel, dessen über achtzig Eilande entweder unbewohnt sind – oder aber unbewohnt wirken, weil ihre Bewohner sich verborgen halten. Keine Frage: Orango und die anderen Inseln der Bijagós sind nicht unbedingt das, was man „gut angebunden“ nennen würde. Anziehungskraft auf Besucher aus der Ferne haben sie dennoch stets ausgeübt. Die rund dreitausend Inselbewohner der Ilha de Orango bilden eine der weltweit seltenen Gesellschaften, die nach den Regeln eines Matriarchats funktionieren.

Feministischer Tourismus

Waren es in Kolonialzeiten Abenteurer und Ethnografen, die wissen wollten, wie es aussieht, wenn die Frauen regieren, sind es heute Kamerateams und Feministinnen, die nach Orango reisen und nach zielgruppengerechten Storys Ausschau halten. „Wir bekommen Anfragen von TV-Sendern, aber auch von Aktivistinnen, die in ihrem Blog darüber schreiben wollen“, sagt Marianna Ferreira, langjährige Managerin des einzigen Hotels auf der Insel. „Doch ich muss dann immer warnen: Es ist hier nicht so, wie ihr euch das vorstellt. Es ist alles ein bisschen komplizierter...“, berichtet die gebürtige Rumänin, deren Ortskenntnis und Energie denen der Power-Frauen auf Orango mindestens gleichkommt. Als sie sich in den 1980er-Jahren in Bukarest in einen Gaststudenten aus Guinea-Bissau verliebt, erkämpft sie ihre Ausreise aus dem Ceausescu-Reich, zieht nach Westafrika, gründet eine Familie, kehrt nicht zurück. Mehrere Jahrzehnte und Enkelkinder später hat sie nichts bereut: „Es war nicht immer einfach, aber es war alles richtig“, sagt Marianna, während das Schnellboot sich unserem Ziel nähert.

Mann in Boot bei Sonnenuntergang

Die Inseln sind nicht besonders gut angebunden, dafür haben sie sich viel Ursprünglichkeit bewahrt

Der Blick der Europäer

Orangos touristische Seite präsentiert sich mit hellem Sandstrand und tropischer Vegetation, inmitten derer das Orango Parque Hotel seine Gäste empfängt. Man übernachtet in gemütlich-komfortablen Rund-Bungalows, genießt fangfrischen Fisch und blickt im Schatten der Palmen auf ein Meer, das stetig seine Farben ändert. Doch während sich das touristische Angebot offen und einladend präsentiert, bleibt die Hauptattraktion der Insel verborgen. Die Einheimischen, so heißt es, lassen sich selten am Strand blicken, der Alltag findet in einer Handvoll Dörfer im Inselinneren statt. „Dahin können wir erst morgen. Aber wir sind bereits angekündigt“, verrät Marianna.
Die Siedlung fern der Küste trug dazu bei, dass die Ethnie der Bijagós ihre kulturelle Eigenständigkeit weitgehend bewahren konnte. Selbst die portugiesischen Kolonialherren, die in Guinea-Bissau ein rigides Regime führten, zeigten kaum Ambitionen, die Menschen des Archipels zu unterwerfen. Die Inseln galten als unzugänglich, ihre Bewohner als widersetzlich. 

Kulturelle Eigenständigkeit

Die ansonsten allgegenwärtigen Missionierungen hatten kaum Erfolg oder wurden gar nicht erst begonnen. Zu den wenigen Europäern, die zu den Einheimischen intensiveren Kontakt aufbauten, zählt der Wiener Ethnograf Hugo Bernatzik, der das Matriarchat auf Orango 1930 und 1931 auf zwei abenteuerlichen Forschungsreisen erkundete. Bernatzik ergab sich später der Nazi-Rassenideologie, doch sein Bericht über die Inseln erzählt von aufrichtigem Respekt für ihre Bewohner: „Niemals habe ich den Eindruck gewonnen, dass diese Menschen uns brauchen, dass ich hier der Gebende sein könnte. Stets empfand ich Achtung und Bewunderung vor der klaren, sinngemäßen Einfachheit, mit welcher sie ihr Leben meistern“, schreibt der Österreicher in „Geheimnisvolle Inseln Tropen-Afrikas“, bis heute ein Standardwerk über die Bijagós.
Am nächsten Vormittag bei der Ankunft im größten Inseldorf Eticoga könnte man glauben, dass Bernatziks Einschätzung fast hundert Jahre später immer noch gilt: Zahlreiche, gut gepflegte Obst- und Gemüsegärten, üppige Reisfelder sowie frei umherlaufende Hühner, Schweine, Ziegen und Schafe lassen auf ein auskömmliches Leben in weitgehender Selbstversorgung und kultureller Eigenständigkeit schließen.

Frauen an der Macht

Das wichtigste Gebäude dieser Kultur findet sich im Zentrum des Ortes: eine von einem dichten Zaun geschützte Rundhütte – Versammlungsort der Priesterinnen – zu der die Männer keinen Zutritt haben und in der die Frauen den Kontakt zu Göttern und Vorfahren suchen. Wichtigste Person dieser Ahnenreihe ist Okinka Pampa, die letzte Königin der Insel und Feministin der ersten Stunde. Die von 1910 bis 1930 herrschende Regentin verstand, den Einfluss der Portugiesen mit viel Verhandlungsgeschick abzuwehren, stärkte die Rechte der Frauen, unterband Sklaverei und Frondienste auf der Insel. 
Die Früchte dieser Reformen genießen die Bijagós bis heute: Öffentliche Angelegenheiten werden zwischen Männern und Frauen gleichberechtigt verhandelt, das letzte Wort haben die Priesterinnen. Auch im Privatleben besitzen Frauen die aktivere Rolle. Sie übernehmen die Initiative bei der Partnerwahl wie auch bei einer Trennung – im schlechtesten Fall wird dem verschmähten Mann die Habe vor die Tür gestellt. 

Ohnehin muss sich, wer auf Orango als Mann gelten will, zunächst in einem Initiationsritus, dem fanando, für einige Zeit in den Urwald zurückziehen, um dort ohne Hilfe der Gemeinschaft die eigene Überlebensfähigkeit unter Beweis zu stellen. Weil die Missionare nie richtig Fuß fassten, praktizieren die Bijagós bis heute eine animistische Religion mit zahlreichen, zum Teil sehr komplexen Symbolen, Riten und Praktiken. Dies zeigt sich auch in der Tanzaufführung, die die Männer und Frauen des Dorfes am Nachmittag zu Ehren ihrer Gäste darbieten: Keine billige Showeinlage für Touristen ist hier zu erleben, sondern eine anspruchsvolle rituelle Performance, die als Dialog mit der Natur und den in ihr lebenden Göttern und Ahnen zu verstehen ist.

Menschen tanzen in bunten traditionellen Gewändern

Weil Missionare hier nie Fuß fassten, konnte sich auf den Inseln eine reiche und komplexe indigene Kultur erhalten

Doch auch wenn die Kultur der Bijagós vital und kraftvoll wirkt – im Dolmetscher-Gespräch mit den Frauen des Dorfes dominieren die Kümmernisse des Alltags. Das Dach des Gemeindehauses ist von einem Sturm beschädigt worden und niemand weiß, mit welchen Mitteln es repariert werden kann. Noch größeren Kummer bereitet den Frauen, dass sie ihre in die Hauptstadt Bissau abgewanderten Söhne und Töchter kaum finanziell unterstützen können. Dass auf dem fernen Festland eine Welt herrscht, die der eigenen zumindest materiell unendlich überlegen ist, vermag die eigenen Werte offenbar allmählich infrage zu stellen. Was die portugiesischen Missionare nicht vermochten, scheinen die mächtigen Kräfte der Globalisierung zu übernehmen. Auch deshalb wird es Zeit, sich zu verabschieden und die Dorfbewohner wieder sich selbst zu überlassen. Zumal die Umgebung manch weitere Attraktion bereithält, die es zu entdecken gilt. So findet sich auf Orango eine seltene Spezies von Nilpferden, die sowohl im Süßwasser der Insel wie auch im Meerwasser siedelt. Bereits die geführte Wanderung durch sumpfiges Gelände in die Nähe der gefährlichen Dickhäuter gleicht einem Abenteuer-Trip.

Nilpferd in sumpfiger Graslandschaft

Auf Orango gibt es  Nilpferde, die  sich im  Süßwasser und im Meereswasser wohlfühlen

Riesenschildkröten 

Als ebenso spannend erweist sich der Bootstrip auf das winzige Eiland Poilão, ein Naturschutzreservat, an dessen Strand Riesenschildkröten  im Schutz der Nacht ihre Eier vergraben. Sowohl die nächtliche Beobachtung dieses Vorgangs mit Taschenlampen wie auch das Schlüpfen der Jungschildkröten bieten unvergessliche Erlebnisse, inklusive fachkundiger Einordnung durch die örtlichen Naturschützer.
Wer bei so viel Natur und Ursprünglichkeit nach Abwechslung verlangt, reist weiter nach Bubaque, der Hauptinsel der Bijagós. Der gleichnamige Hauptort präsentiert sich zwar auch ziemlich verschlafen, bietet mit einer Handvoll Restaurants, Bars, Resorts und einer wöchentlichen Fährverbindung nach Bissau jedoch so etwas wie eine touristische Grundversorgung. Beim Sun-Downer am Hotel-Pool sollte es auch dem letzten Urlauber dämmern: Die Bijagós sind nicht das Ende der Welt, sondern ein höchst lebendiger Kultur- und Naturraum, dessen Geheimnisse während einer einzigen Reise kaum zu ergründen sind.

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