Neuanfang nach Schicksalsschlag: Wie eine Aussteigerin am Jakobsweg ein neues Leben begann

Pilger geht am Jakobsweg an der Küste
Der Camino de Santiago erzählt nicht nur Geschichten der Pilger: Medienmanagerin Anna Visser zog nach einem Schicksalsschlag von den Niederlanden nach Spanien, um eine Herberge zu eröffnen.

Zusammenfassung

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  • Eine Managerin eröffnete nach einem Schicksalsschlag eine Herberge am Camino del Norte in Spanien.
  • Die Herberge bietet Pilgern eine Unterkunft auf Spendenbasis.

Wer schon in Spanien war, kommt nicht daran vorbei: Camino hier, Camino da. Es ist das spanische Wort für „Weg“, oft wird noch „de Santiago“ ergänzt, spätestens dann wird eindeutig vom Jakobsweg gesprochen. Einem Pilgerweg, dessen Ziel die Kathedrale von Santiago de Compostela ist. Dort liegt angeblich der Apostel Jakobus begraben. 2024 kamen 498.884 Pilgerinnen und Pilger in der Hauptstadt der Provinz Galizien an.

Das weiß man so genau, weil sie sich dort im Pilgerbüro ihre Compostela abholen – eine Urkunde, die bescheinigt, dass sie zumindest hundert Kilometer zu Fuß oder zweihundert Kilometer per Rad gepilgert sind. Das wiederum wird im Pilgerpass nachgewiesen. Alle, die eine Compostela haben wollen, brauchen so einen, dort werden Stempel der Orte gesammelt, die man besucht hat.

Viele Jakobswege

Dabei gibt es nicht nur einen Jakobsweg – wobei der berühmteste wohl der rund neunhundert Kilometer lange Camino Francés von der französischen Grenze bis nach Santiago ist. Alleine in Spanien gibt es sechzehn Routen, alle markiert mit dem Abbild einer gelben Muschel. Je nach Provinz zeigen die Strahlen in Richtung des Grabes des Heiligen, oder die Seite, wo sich die Strahlen bündeln – das kann zu Verwirrungen führen, wenn man so wie beim Camino del Norte, dem rund achthundert Kilometer langen Küstenweg im Norden Spaniens, gleich fünf Provinzen durchquert.

Wegpfeiler am Jakobsweg mit gelber Muschel auf blauem Hintergrund

Die gelbe Muschel ist das Symbol des Jakobswegs. 

Pilgerinnen und Pilger erkennt man meist schon von Weitem – nicht etwa, weil sie vor sich hin hinken oder humpeln (was tatsächlich viele tun), sondern weil sie eine Muschel auf ihren Rucksäcken oder Gehstöcken montiert haben oder Kleidungsstücke mit dem Symbol tragen. Türen und Tore öffnet ihnen jedoch nur der Pilgerpass. Und zwar jene der öffentlichen oder vereinsgeführten Pilgerherbergen, den Albergues.

Pilgerpass wird gestempelt

Im Pilgerpass sammelt man Stempel der Orte, in denen man war.

Wenig Geld, dünne Decke

Zumeist sind das Schlafsäle voller Stockbetten und Gemeinschaftsbäder in Gemeindegebäuden oder ehemaligen Klöstern. Für kleines Geld (einige sind auch kostenlos) bekommt man dort ein Bett mit Polster und dünner Decke. Einchecken kann man frühestens um 14 Uhr, auschecken muss man spätestens um acht Uhr, verlängern kann man den Aufenthalt nicht (will man auch selten, zumeist sind die Unterkünfte wenig einladend). Neben diesen Herbergen gibt es kommerzielle und solche, bei denen Privatpersonen ihre Häuser öffnen, sogenannte Donativos.

So ein Haus ist Anna Vissers in Pendueles, Asturien. Gelegen bei Kilometer 417 des Camino del Norte heißt die 50-jährige Niederländerin seit zwei Jahren Pilger willkommen – mit Tee und Keksen. Sie nimmt die Pilgerpässe entgegen, versieht sie mit ihrem Stempel – einem Vogel – und dem Datum, nimmt die Daten ihrer Gäste auf und zeigt ihnen im zweiten Stock den Raum, in dem sie schlafen werden. Zehn Betten hatte sie in der ersten Saison (von April bis Ende Oktober, dazwischen ist es zu kalt und nur wenige machen sich auf den Weg), jetzt sind es zwölf. „Abendessen gibt es um sieben Uhr“, erklärt sie.

Pilger trocknen ihre Wanderschuhe an einer Feuerstelle.

Pilger trocknen ihre Wanderschuhe an einer Feuerstelle.

Gemeinschaft und Solidarität

Den Gästen bleibt nur noch zu tun: ausruhen, Blasen versorgen und es sich bequem machen. Oder der Gastgeberin beim Kochen zuschauen. Sie werden mit einem dreigängigen, vegetarischen Menü verwöhnt, das sie hübsch angerichtet jedem einzeln serviert. Dabei sitzen alle an einem Tisch und teilen Erfahrungen. Nicht selten nimmt sich jemand die Gitarre aus der Ecke und es wird musiziert. Morgens geht es nach dem Frühstück gestärkt weiter. Beim Ausgang hängt die Spendenbox, jeder gibt, was er geben möchte oder kann. „Ich mag das Solidaritätsprinzip“, sagt Anna, an deren Tisch bereits 63 Nationen saßen. Am Ende der ersten Saison zog sie Bilanz: „Größere Investitionen oder Renovierungen sind nicht drinnen, aber für das Alltägliche reicht es.“ Zu Beginn hatte sie keine Idee, ob sich das rechnen würde. „Wenn nicht, muss ich zusätzlich in meinem alten Job Projekte umsetzen und Aufträge annehmen“, sagte sich die erfolgreiche Journalistin und Medienmanagerin anfangs.

Anna Visser mit einer Kiste Zitronen

Anna Visser zog von Rotterdam nach Spanien

Nun managt sie die Albergue Aves de Paso (Herberge der Zugvögel). „Ich habe sie vor drei Jahren gekauft, es ging alles sehr schnell. Ich habe mein Haus in Rotterdam verkauft und bin im August hier eingezogen“, erzählt sie – hier, mitten im Nirgendwo. „Ich habe mich in die Gegend verliebt, als ich das erste Mal hierher gefahren bin. Es ist alles wunderbar grün, auf der einen Seite das Meer, auf der anderen die Berge.“ Noch bevor sie das Haus besichtigt hatte, war für sie klar, hier eine Herberge zu eröffnen. Sie habe sich gesagt, selbst, wenn es nicht das Haus wird, werde sie den Camino del Norte entlang gehen und das richtige finden. Doch das musste sie gar nicht. „Tatsächlich bin ich ihn noch nie gegangen“, schmunzelt sie. Geschichten davon hat sie aber unzählige zu erzählen, ungefähr 3.200 Pilger haben sie mitgebracht und sich unter ihrem Dach ausgeruht. Einige davon sind zurückgekommen, um ihr als Volontärinnen eine Zeit lang zu helfen. In einen der Pilger hat sich die Holländerin verliebt, auch er ist zurückgekommen, aber um zu bleiben.

Der Weg als Trauerbewältigung

Zwar ist Anna Visser den ganzen Küstenweg noch nicht gegangen, allerdings zwei andere Routen, den Camino Frances 2014. „Damals kam mir die Idee, eine Herberge zu machen“, sagt sie, allerdings war der Zeitpunkt nicht der Richtige. 2021 ereilte sie ein Schicksalsschlag, ihr damaliger Partner verstarb an einem Herzinfarkt. „Ich schlitterte in eine Krise“, erzählt sie, schließlich habe sie entschieden, nach Santiago de Compostela zu pilgern, diesmal der portugiesischen Küste entlang, allein und in tiefster Trauer. „Dort habe ich gemerkt, dass das Leben weitergeht, dass ich auch wieder lachen kann. Ich habe zwei andere getroffen, die auch geliebte Menschen verloren haben. Einer hat gesagt: ,Das Vermissen wird bleiben, aber der Schmerz wird gehen.’“ Bei ihr seien erst zwei Monate vergangen gewesen, dennoch: „Ich habe es mir beim Gehen vorgesagt, wie ein Mantra.“

Ein Neuanfang

Beim Pilgern ging es ihr besser, doch sie musste zurück nach Holland. „Ich habe gedacht, ich verkaufe mein Haus und gehe mein Leben lang Jakobswege. Natürlich war das keine solide Idee.“ Aber die mit der Herberge. In einer schlaflosen Nacht startete sie eine Googlesuche – zwei zum Verkauf stehende Herbergen fand sie schnell. In Spanien könne jeder sein Haus zu einer Pilgerherberge auf Spendenbasis machen. „Aber du musst das mögen, sieben Monate lang täglich fremde Menschen im Haus zu haben“. Nach der Saison sei sie froh über die Ruhe. Jetzt freut sie sich wieder auf die „Lebendigkeit und das Wimmeln.“

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