
Hiroshima 80 Jahre nach Atombomben-Abwurf: Zurück ins Leben
Vor achtzig Jahren, am 6. August 1945 um genau 8.16 Uhr, wurde Hiroshima durch die Explosion einer US-Atombombe in Sekundenschnelle zerstört. Auf einer Radtour dort erlebt man den Alltag einer lebendigen, japanischen Großstadt, die aus der Asche der Katastrophe auferstanden ist.
Es ist eine eher schmale, unscheinbare Straße nur wenige Schritte von der belebten Einkaufspassage mitten in Hiroshima, in der Moe Philip stoppt und vom Sattel steigt. Zwischen funktionalen Neubauten deutet die Radführerin an einem Klinikgebäude auf eine kleine Erinnerungstafel. „Hier war das sogenannte Hypozentrum, dies ist unser Ground Zero“, sagt die 43-jährige Japanerin.

Radguide Moe Philip
©Sascha RettigDenn: Vor achtzig Jahren, am 6. August 1945 um 8.16 Uhr, wurde genau über dieser Stelle vom US-Flieger „Enola Gay“ eine Atombombe abgeworfen und in 600 Metern Höhe gezündet. Von einem Augenblick auf den anderen entfaltete der Feuerball seine verheerende Wirkung: Nach nicht mal zwei Sekunden lag nicht nur die Stadt in Schutt und Asche. Auch mindestens 140.000 Menschen fielen der Katastrophe und ihren Folgen zum Opfer. Erst durch die enorme Druckwelle und einem Feuersturm mit einer Hitze von mehreren Tausend Grad im Stadtzentrum; später dann durch die nukleare Strahlung.

"Wie ein Phönix aus der Asche wiedergeboren"
Es ist ein aufwühlendes, intensives Gefühl, an diesem Ort zu sein. Was dort geschah, übersteigt jede Vorstellungskraft. Doch wenn man mit dem Shinkasen-Schnellzug weit in den Westen von Japans Hauptinsel Honshu nach Hiroshima rauscht, liefert die 1,2-Millionen-Hafenstadt den dringend nötigen Kontrast: die Lebendigkeit einer jungen und modernen japanischen Großstadt, die alles andere als bedrückend wirkt. „Hiroshima wurde wie ein Phönix aus der Asche wiedergeboren“, sagt Moe, deren Radtour Geschichte und Alltag, Krieg und Frieden, Vergangenheit und Gegenwart verbindet.
Besuchermagnet und ein Symbol der Hoffnung
Start dafür war im Friedenspark, für den sicher die meisten Reisenden in die Stadt kommen. Über vierzig Orte der symbolträchtigen Erinnerung sind nach dem Krieg dort entstanden. Ein Besuchermagnet ist das „Peace Memorial Museum“, in dem die Ströme an Fotos, Zeitzeugenberichten und Relikten der Katastrophe vorbeiziehen. Das Museum liegt auf einer Achse mit dem Kenotaph, einem bogenartigen Gedenkort für alle Opfer.

Die Flamme dort, ein Hoffnungssymbol für eine Welt ohne Atomwaffen, brennt bereits seit 1964 ununterbrochen – und wird wohl leider auch unabsehbar lange weiterbrennen. „Sie soll erst ausgehen, wenn es keine Atomwaffen mehr gibt“, so die Radführerin, kurz bevor sie das Denkmal für das Mädchen Sadako Sasaki ansteuert, das durch die Verstrahlung an Leukämie erkrankte.
Die Legende der Kraniche
Um, einer Legende nach, einen Wunsch von den Göttern erfüllt zu bekommen, wollte sie tausend Kraniche falten – letztlich waren es sogar deutlich mehr, als sie doch starb. Der Origami-Kranich als Symbol für Hoffnung und Frieden begegnet einem seitdem vielerorts in der Stadt. „Allein fünfzehn Tonnen gefalteter Kraniche sind es jedes Jahr am Denkmal.“ Sie werden aus aller Welt eingeschickt, hier aufgehängt und später recycelt für Souvenirs und Papier.

Origami-Kraniche
©Sascha RettigNur ein paar Pedaltritte weiter – gerade einmal 160 Meter vom Ground Zero – hat man am Flussufer einen freien Blick auf das Friedensdenkmal, das weltweit zum Sinnbild für den Atomkrieg wurde: die Atombombenkuppel. Ursprünglich war es die „Halle zur Förderung der Industrie der Präfektur Hiroshima“, ein markantes Steingebäude im europäischen Stil mit Kupferkuppel. Es gehörte zu den knapp über achtzig Steingebäuden, die – anders als die damals typischen Holzhäuser – der zerstörerischen Kraft trotzten. „Es hat 21 Jahre gedauert, bis feststand, dass der Gebäuderest erhalten bleiben sollte“, berichtet Moe. Dann wurden Risse gefüllt und Eisenverstärkungen als Stützen hineingebaut. Die Überreste mit dem Dachgerippe stehen seitdem als Mahnmal, das seit 1996 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. „Durchaus umstritten, weil die Erinnerung vielen Menschen zu schmerzhaft ist“, sagt Moe. So wie einst für ihre eigene Großmutter.
Schließlich berichtet die Japanerin nicht nur sehr anschaulich vom Grauen und wie manche Menschen durch außergewöhnliche Zufälle überlebten. Ihre Erzählungen sind besonders eindringlich, weil die Geschichte der Stadt auch Teil ihrer eigenen Familienbiografie ist: Ihre Großeltern gehörten zu den Überlebenden. „Mein Großvater hatte Glück, er sollte damals im Stadtzentrum helfen, die Häuser sicherer gegen die Feuer durch Bombenangriffe zu machen“, erzählt sie. Genau an dem Tag hätte er aber eine Lebensmittelvergiftung gehabt und blieb zu Hause – anders als sein Bruder. „Ich existiere heute nur, weil meine Großeltern etwas außerhalb des Zentrums lebten.“ Obwohl sie auch dort der Strahlung ausgesetzt waren, sind sie deutlich über achtzig Jahre alt geworden.
Doch in Hiroshima dreht sich längst nicht alles um die Atombombe. Nachdem die Radgruppe anfangs wegen der hohen Dichte an Sehenswürdigkeiten kaum vorankommt, verlässt sie schließlich den Friedenspark und radelt mehr. Im gemütlichen Tempo geht es Moe nach, geordnet und hintereinander durch den Linksverkehr. „Und jetzt reisen wir weit zurück in der Zeit“, ruft sie an einer Unterführung.

Das Hiroshima Castle.
©Sascha RettigDahinter landet man im 16. Jahrhundert beim Hiroshima Castle. Oder vielmehr einem Nachbau davon – denn auch diese Burg mit ihren charakteristischen, japanischen Dächern wurde stark zerstört. Wie es sich für so eine Anlage gehört, ist sie von einem Graben und Mauern umgeben. Durch ein historisches Tor landet man auf dem Gelände, wo auch der Gokoku-Schrein auf dem Weg liegt. „Im Zweiten Weltkrieg beteten die Menschen für den Sieg Japans, heutzutage hingegen gern mal für den Sieg ihrer Lieblingsbaseballmannschaft“, sagt Moe augenzwinkernd.
Schließlich geht es raus aus dem touristischen Zentrum: mit einem kurzen Blick auf den Gate Park, einem ehemaligen Stadion, das zum Park mit Restaurants und Shops transformiert wurde. Dann weiter durch Wohngebiete dieser jungen Stadt, die sich zu einem kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum Japans entwickelt hat. Man radelt vorbei an Blumenläden, Friseuren und Restaurants. Ganz normales Leben. Immer wieder rütteln die Straßenbahnen vorbei, die das Straßenbild Hiroshimas nach wie vor prägen. Bei der Aussichtsplattform am Depot deutet Moe auf Wagen, die den Atombombenabwurf überstanden haben und immer noch im Einsatz sind. „Nach drei Tagen sind die ersten Straßenbahnen wieder gefahren – das gab den Menschen Hoffnung.“

Überhaupt ist Hiroshima einst schnell wieder auferstanden und wurde ein wichtiger Industriestandort – etwa mit den Mazda-Automobilwerken. Wo Autofans heute Touren durch die Produktionshallen und das Werksmuseum machen, liefen vier Monate nach der Explosion die Fließbändern wieder.
Scharfes und Deftiges
Am frühen Abend endet die Radtour, Moe verabschiedet sich und es ist Zeit fürs Abendessen. Soll es ein Restaurant sein, das die für die Region typischen Austern zum Snackpreis auf der Karte hat? Oder ein Nudellokal, um die scharfen Tsukemen zu probieren? Die Wahl fällt auf eine andere kulinarische Besonderheit: der Besuch eines Okonomiyaki-Restaurants.

Die japanische Puffer-Variante ist deftig und beliebt.
©Sascha RettigIm Okonomi-Mura, dem „Okonomiyaki-Dorf“, füllen die vielen Lokale für die japanische Puffer-Variante gleich mehrere Etagen. Beim Schlangestehen rauschen die Eindrücke des Tages durch den Kopf. Auf der Tour wurde das dunkle Bild von Hiroshima an vielen Stellen übermalt und auch wenn die der Name der Stadt immer noch ein Synonym für den Atombombenangriff ist, denkt man ans Weitermachen und (Über-)Leben, an Frieden und die Zukunft nach dem Neuanfang.
Info
Anreise
Direktflug nach Tokyo, dann weiter mit dem Schnellzug Shinkansen nach Hiroshima (ca. 4 Std.). CO2-Kompensation via atmosfair.de: 88 €
Radtour
Einen tiefen Einblick in die Geschichte und das Leben in der Stadt bekommt man auf einer geführten Tour mit Sokoiko! Cycling Tours: sokoiko-mint.com/en
Übernachten
– Ein trendiges Hotel in Zentrumsnähe ist das „The Knot“ – inkl. Bar und Terrasse mit toller Aussicht auf die Stadt. DZ/Nacht ab 140 €, hotel-the-knot.jp/hiroshima/en
– Gegenüber der Insel Miyajima liegt das „Aki Grand Hotel“, das heiße Bäder und drei Restaurants bietet. DZ/Nacht ab 205 €, http://akigh.co.jp/
1996 Seit dem Jahr ist die Atombombenkuppel UNESCO-Weltkulturerbe
Auskunft dive-hiroshima.com/de, japan.travel
Nach kurzer Zeit ist ein Plätzchen in einer der kleinen Okonomiyaki-Buden frei, in denen man mit anderen dicht gedrängt sitzt. Die Bratfläche hat man direkt vor der Nase und kann vom Logenplatz beobachten, wie die deftige Hiroshima-Version dieser Puffer sorgfältig mit zahlreichen Zutaten geschichtet wird. Dabei kommt man mit Händen und Füßen mit Einheimischen ins Gespräch und die Worte von Moes Großvater, die sie ihren Mitradelnden auf den Weg mitgab, hallen wider. „Schließe Freundschaften, so viele wie möglich, überall auf der Welt“, habe er ihr gesagt. „Denn man respektiert seine Freunde – und lässt keine Bomben auf sie fallen!“
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