Selbsterfahrung: Joost Egger über seine Dolomiten-Überquerung
270 Kilometer, 20.000 Höhenmeter, sieben Tage, ein Läufer – die Dolomiten fordern alles, Körper und Kopf. Der Wahl-Innsbrucker Joost Egger erzählt, worin die Herausforderungen einer Alpenüberquerung liegen.
Die Morgensonne taucht Innsbruck in goldenes Licht, als ich meine Wanderschuhe schnüre und den acht Kilo schweren Rucksack schultere. Ich heiße Joost, bin zweiunddreißig, lebe seit ein paar Jahren in Tirol – und habe mir in den Kopf gesetzt, die Alpen zu Fuß zu durchqueren.
Ziel: Belluno in Italien. Zweihundertsiebzig Kilometer, zwanzigtausend Höhenmeter. Geplant waren neun Tage – am Ende brauchte ich nur sieben. Am Anfang wirkt alles noch unspektakulär. Kein epischer Aufbruch, kein Drama. Nur ein Start, ein Weg, ein Körper, der weiß, wie man läuft.
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Joost Egger
©Joost Egger @aka.joeSpiel mit den Elementen
Auf der Karte sieht alles klar aus: Etappen, Hütten, Höhenmeter. In der Realität wird es schnell ein Spiel mit den Launen der Alpen. Dieser August bringt alles – Sonne, Wind, Gewitter, Nebel. Tagsüber selten über zwanzig Grad, oft kühl, immer feucht. Das Wetter wird zum ständigen Begleiter: mal freundlich, mal feindselig.
Tag eins: Zu Beginn ein Paukenschlag
35,8 Kilometer, fast dreitausend Höhenmeter, hoch zur Lizumer Hütte. Für viele eine Lebensleistung – für mich nur der Anfang. Sieben Stunden und fünfundvierzig Minuten später sitze ich am Tisch, ziehe meine selbst gebauten Hausschuhe an: Einlagen plus Schnürsenkel, fünfzig Gramm. Meine persönlichen Luxus-Sneaker. Nach Stunden in klammen Schuhen fühlt sich kaum etwas besser an, als in diese leichten Schlappen zu „schlüpfen“. Kleine Dinge, die im Alltag banal wirken, sind hier pures Glück.
Der Hüttenwirt warnt eindringlich vor der Nässe an der Friesenbergscharte. Mit Respekt im Hinterkopf und eigener Bergerfahrung im Gepäck wage ich den Übergang – und stelle erleichtert fest, dass er an diesem Tag unspektakulär bleibt.
Landkarte
©GrafikTag zwei: Das Tor nach Süden
Am zweiten Tag erreiche ich das Pfitscher Joch Haus – ein uraltes Übergangstor zwischen Nord- und Südtirol. Oben nur Fels, Schneereste und Wind. Wenige Schritte weiter verändert sich die Stimmung: das Licht wird weicher, die Vegetation dichter, die Luft milder. Italien ist nah.
Fünfunddreißig Kilometer und zweitausendsechshundertsechzig Höhenmeter später bin ich in Südtirol – ein geografischer Schritt, aber auch ein mentaler. Es fühlt sich an wie ein neuer Abschnitt meiner Reise.
Tag drei: Anstiege, die man nicht vergisst
Am dritten Tag läuft mein Körper noch immer wie geplant. Keine Erschöpfung, keine Warnsignale – so muss es sein, sonst wäre ich schlecht vorbereitet. Aber die Strecke hat ihre Eigenheiten: 32,3 Kilometer, zweitausenddreihundertsiebenunddreißig Höhenmeter hinauf, zweitausendachthundertneunzig hinunter. Besonders bleibt mir ein langer Anstieg im Gedächtnis – eintausendfünfhundert Höhenmeter stupide eine Wiese hoch, mitten durch eine Kuhherde.
Davor führen mich alte, fast vergessene Pfade vorbei an einem Wasserfall. Es ist diese Mischung aus Monotonie und Zauber, die den Tag prägt. Am Abend erreiche ich Meransen – ein kleiner Ort, der nach dem langen Abstieg wie eine Oase wirkt.
Nach drei Tagen und über hundert gelaufenen Kilometern sehen die Schuhe entsprechend aus.
©Joost Egger @aka.joeTag vier: die Dolomiten – groß, grau und gewaltig
Tag vier gilt als Königsetappe: 42,5 Kilometer, über dreitausend Höhenmeter. Die Dolomiten begrüßen mich mit grauen Zacken im Nebel, doch die Strecke ist weniger dramatisch als gedacht – eher „Autobahn“, flache Plateaus, endlose Wege. Erst zum Ende hin, am Peitlerkofel, wird es spektakulär. Und ich merke: Ich bin fitter, als ich mir selbst zugetraut hätte.
Am Abend falle ich in die Schlüterhütte, ein uriger Stützpunkt mitten in den Bergen. Hier hätte ein Ruhetag gutgetan.
Tag fünf: schöne Aussicht und erste Warnsignale
Am fünften Tag zeigt sich die andere Seite der Dolomiten: sonnig, klar, ein Panorama wie aus dem Bilderbuch.
Eigentlich hatte ich einen Ruhetag eingeplant – doch ich fühle mich so stark, dass ich einfach weiterlaufe. Die Aussicht ist atemberaubend, vielleicht die schönste der gesamten Tour. Neununddreißig Kilometer später erreiche ich das Rifugio Marmolada.
Doch auch erste Warnsignale tauchen auf: Die Füße beginnen zu schmerzen, die Hüfte meldet sich. Dehnen wird wichtiger.
Tag sechs: kleine Genüsse, große Wirkung
Am sechsten Tag geht es tiefer hinein in die Civetta-Region. Der Weg ist mit knapp einunddreißig Kilometern im Vergleich kürzer, aber nicht leichter: fast zweitausendfünfhundert Höhenmeter, enge Grate, Wind und Nebel. Am Abend erreiche ich das Rifugio Sonino al Coldai. Die Sonne brennt, später ziehen Wolken auf, pünktlich um siebzehn Uhr prasselt Regen auf die Hütte. Davor aber glühen die Felswände in Rot – ein Anblick, der alles wert ist.
Körperlich wird es zäh: Die Schuhe reiben, die Knöchel schmerzen so sehr, dass ich Platz schaffen muss. Kurzerhand schneide ich meine Schuhe etwas ein. Das Problem ist schon mal gelöst. Dazu kommt Heißhunger auf Gummibärchen – nur leider ist Sonntag, kein Geschäft hat offen. Ein fast banales Detail, das die Absurdität solcher Extremtouren zeigt.
Am Abend im Rifugio Sonino schmeckt die Pasta königlich, frisches Quellwasser wird zum besten Getränk der Welt. Mein Rhythmus hat sich eingespielt: laufen, essen, dehnen, regenerieren – und kurz die Eindrücke in den sozialen Medien teilen.
Joost Egger überquerte die Dolomiten.
©Joost Egger @aka.joeTag sieben: Jeder Schritt schmerzt
Der letzte Tag wird zum XXL-Finale: 52,3 Kilometer, über dreitausenddreihundert Höhenmeter – und vor allem fünftausendzweihundert Höhenmeter bergab.
Der Körper läuft automatisch, doch jeder Schritt schmerzt. Die Fußballen und Zehen sind so überlastet, dass ich sie kaum bewegen kann. Barfuß durchs Hotel am Abend? Unmöglich. Kurz vor dem Ziel wartet noch ein Klettersteig – knackig, rutschig, eine echte Prüfung. Zum Glück habe ich durch viele Touren mit meinem Vater genug Erfahrung, um hier sicher durchzukommen.
Die letzten fünf Kilometer telefoniere ich mit einer Freundin. In diesem Moment wird mir klar, wie wichtig Freunde sind – Menschen, die einen tragen, auch wenn sie selbst gar nicht neben einem gehen. Dann: Belluno. Kein Zielbogen, kein Applaus. Nur Pizza, eine Dusche – und der Gedanke: Ich hab’s geschafft.
Zur Person: Der Weitläufer
Joost Egger ist 32 Jahre alt, aufgewachsen im Wuppertal, seit 2022 Wahl-Innsbrucker. Während seine alte Heimat für ihn blass und eintönig wirkt, beschreibt er Innsbruck als farbenfroh und voller Möglichkeiten. Sport ist für ihn keine Freizeitbeschäftigung, sondern Treibstoff. Einen Marathon läuft er so nebenbei, während andere dafür Monate trainieren. Mit einem ständigen Grinsen im Gesicht, wenn er von seinen nächsten Abenteuern erzählt, brennt es ihm regelrecht unter den Fingernägeln, Neues auszuprobieren. Dass er in der IT arbeitet, ist schwer zu glauben – zu sehr lebt er in Bewegung.
Was bleibt
Zweihundertsiebzig Kilometer, zwanzigtausend Höhenmeter in sieben Tagen. Doch was bleibt, sind nicht die Zahlen. Es sind die Bilder im Kopf: die rauen Gipfel Tirols, das milde Licht Südtirols, die monumentalen Dolomiten, die weichen Hügel des Veneto. Es sind Begegnungen mit Menschen, Tieren – und den eigenen Grenzen. Belluno markiert das Ende der Alpen. Für mich aber nur den Anfang des nächsten Abenteuers.
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