Psychiater Haller: „Haben die Schnauze voll von schlechten Nachrichten“

Mehrere Hände klatschen und zeigen den Daumen nach oben vor einem hellblauen Hintergrund.
Die Menschen haben verlernt, einander wertzuschätzen. Reinhard Haller erklärt, warum wir sie brauchen und wie man richtig kritisiert.

Tatsächlich hat Reinhard Haller bisher immer Bücher über Krankheiten und Störungen geschrieben. Man könnte auch sagen, über die Abgründe der Seele im Allgemeinen und Straftäter im Besonderen.

Dann haben seine Leser angeregt, doch auch einmal etwas zur Lösung zu schreiben: „Nicht immer nur aufzeigen, wie schlecht die Menschen sind und was es Schlimmes gibt. Sondern sagen, wie man damit umgehen soll.“

Zudem sei das Bedürfnis nach Good News in der Gesellschaft sehr hoch. „Sie haben die Schnauze voll von schlechten Nachrichten.“

KURIER: Herr Dr. Haller, zählt Wertschätzung zu den Good News, nach denen wir uns so sehnen?

Reinhard Haller: Ja, das glaube ich schon. Journalisten sehen das ja vielleicht anders. (lacht) Als ich die ersten Vorträge zum Thema gehalten habe, dachte ich, das interessiert niemanden. Aber das Gegenteil war der Fall, die Säle sind immer voll.

Ich glaube, dass die Menschen eine Sehnsucht nach Anerkennung haben. Letztlich steckt dahinter immer das Urbedürfnis, geliebt zu werden, und das ist sehr groß geworden. Jeder giert immer mehr danach. Aber gleichzeitig ist man nicht bereit, Wertschätzung weiterzugeben – und nicht mehr im Stande, sie anderen zukommen zu lassen. Das ist doch etwas sehr Verwunderliches.

Ist das Bedürfnis nach Wertschätzung eine Folge fehlender Wertschätzung oder eher, dass wir nicht mehr wertschätzend agieren können?

Mir scheint, dass in unserer Gesellschaft eine gewisse Wertschätzungsblockade herrscht. Das heißt, alles ist auf cool, cool, cool ausgerichtet. Das ist das gesellschaftliche Idealbild, besonders unter jungen Leuten.

Man hat ja selbst die Emotionen an den Computer delegiert mit all diesen Emojis. Ich glaube, das genügt Menschen einfach nicht. Innerlich sind auch Junge und Coole genauso verletzlich wie es Menschen halt immer sind. Heute vielleicht mehr denn je.

Ein Mann mit Brille, Anzug und Krawatte sitzt an einem Tisch.

Gerichtspsychiater Reinhard Haller

Wo fällt Ihnen das besonders auf?

Alle Untersuchungen über Zufriedenheit am Arbeitsplatz sagen, Wertschätzung ist für die Mitarbeiter das Allerwichtigste, wichtiger als die Bezahlung. Auch dort ist man nicht in der Lage, es den Menschen zukommen zu lassen.

Obwohl es billig wäre und man keine teuren Kommunikationsseminare braucht, sondern man müsste nur seine eigene Wertschätzungsschwelle überwinden. Dann hätte man eine Win-Win-Situation.

Gibt es auch innerhalb der Gesellschaft Unterschiede?

Ja. Heute wird in unserer Gesellschaft ein immer größer werdender Teil nicht mehr wertgeschätzt, und das sind Menschen über 60 und 70 Jahren. Die haben eine enorme Wertschätzungskrise. Wir brauchen sie heute nicht mehr.

Erfahrung und Wissen, das früher von ihnen benötigt wurde, hat ja Google viel, viel besser, und ihnen wird dauernd vorgerechnet, dass sie ein Kostenfaktor sind. Das prägt natürlich die gesamte Stimmung.

Haben Internet und soziale Medien zum Verlust der Wertschätzung beigetragen?

Das Internet betrachte ich immer zweischneidig. Wenn man selbst in einen Shitstorm kommt, ist es auf der einen Seite sehr ärgerlich. Es gibt auch so etwas wie einen rechtsfreien Raum. Auf der anderen Seite ist es noch einer der wenigen Orte, wo Menschen ihre Aggressionen ablassen können.

Holzhacken zum Frustabbau ist ja heute nicht mehr möglich. Der Mensch hat aber ein sehr hohes Aggressionspotenzial, die Energie muss irgendwie raus. Das geschieht halt auf diesem digitalen Weg. Insofern ist es mir lieber, wenn die Menschen ihre Aggression digitalisieren, als wenn sie mir ein Messer in den Bauch rammen.

Allerdings spielt der Ehrbegriff in der westlichen Welt heute keine Rolle mehr. Vor 250 Jahren hat man sich duelliert, wenn man meinte, nicht wertschätzend behandelt worden zu sein. In der EU kann man keinen Menschen wegen eines Ehrdelikts gerichtlich belangen. Heute ist die institutionalisierte Wertschätzung in anderen Kulturen noch stärker ausgeprägt und wahnsinnig wichtig.

Welchen Wert gilt es denn überhaupt an einem Menschen zu schätzen? Ist das seine Würde? Oder geht es eher um die Person selbst?

Der Ausdruck ist an sich schon selbstredend: Wert und Schatz. Werte sind also ein Schatz. Oder man muss Werte sozusagen zum Schatz machen. Die höchste Form von Wertschätzung ist immer die Liebe, die zweithöchste wäre das Vertrauen.

Für Wertschätzung braucht man aber zunächst einmal Beachtung. Für viele ist das ein großes Problem, und Missachtung ist ein bedeutender Gegenspieler von Wertschätzung. Wichtig ist auch Toleranz.

Man muss Werte anerkennen können, ohne seine eigenen aufzugeben. Das ist die Basis jeder Wertschätzung: Dass man es erträgt, dass der andere andere Werte hat, als man selbst. Das Lob, der aktive Moment muss ebenfalls in der Wertschätzung enthalten sein.

Das wundert mich, dass man das so wenig nutzt. Obwohl alle Untersuchungen sagen, Lob ist einer der wichtigste Motivations- und Stärkungsfaktoren. Übrigens wird in allen Lebensbereichen zu wenig Gebrauch davon gemacht – in Partnerschaft, in der Familie, im Betrieb. Da ist ein gewisser Analphabetismus eingetreten in diesem Bereich.

Wie lobt man richtig oder übt wertschätzend Kritik?

Indem man sie als solche deklariert, dass man etwas ganz sachlich ansprechen möchte. Dann fühlt sich der andere ernst genommen, man begegnet sich auf Augenhöhe. Oft wird aber mit dem Positiven begonnen und man weiß, das Negative kommt hinten nach. Oder Lob wird erpresserisch eingesetzt.

Konstruktive Kritik kann sogar sehr wertschätzend sein, zum Beispiel wenn man sich mit einem Werk, einer Arbeit auseinandersetzt. Dann signalisiert man: Ich denke darüber nach, habe eben bessere Lösungen oder Vorschläge. Aber wenn Kritik persönlich und nur destruktiv ist, passiert das Gegenteil.

Kann man Wertschätzung lernen?

Ich glaube schon, bis zu einem gewissen Maß. Ich will aber nie etwas aufoktroyieren, sondern für das Thema sensibilisieren. Ich möchte keine Gebrauchsanweisung geben, wie man wertschätzt, dann wäre es meines Erachtens keine echte Wertschätzung, denn die muss authentisch sein, originell und individuell. Also nicht vorgegeben oder Regeln gebend.

Ich will, dass die Menschen in sich selbst hineinhören. Man sollte immer davon ausgehen, dass auch der andere Mensch ein wertschätzungsbedürftiges Wesen ist. Wenn man vermitteln kann, dass Wertschätzen und Loben nichts Peinliches ist, und man es nur tun kann, wenn man selbst einen hohen Wert von sich selbst hat.

Dann hat man ein Stück weit etwas übrig für andere. Wertschätzen kommt immer zurück, mit Zinsen. Und steigert dadurch den Selbstwert. Das würde auch diesem narzisstischen Gefühl, das sich in der Gesellschaft ausbreitet, entgegenwirken.

Kommentare