Milo Raus „Die Seherin“: Kassandra in Ninive, Philoktet in Nimrud

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Wiener Festwochen: Der Intendant nahm viele Anleihen bei früheren Inszenierungen - und kam über Mittelmaß nicht hinaus

Das soll ihm einmal wer nachmachen: Milo Rau, Intendant der Wiener Festwochen, verantwortet nebenbei – er moderierte nicht nur das Eröffnungsspektakel, er leitet auch an insgesamt sechs Tagen die von ihm konzipierten „Wiener Kongresse“ – als Regisseur gleich zwei „Weltpremieren“. Um bei der Herkules-Aufgabe (zusätzlich zu „Burgtheater“) über die Runden zu kommen, muss er sich allerdings selbst zitieren: „Die Seherin“, noch bis 8. Juni im Odeon, wirkt zusammengestoppelt – aus Elementen, die man von anderen Rau-Arbeiten kennt.

Man kann von einer Masche sprechen: Milo Rau reist seit Jahren mit seinem Gefolge zu den Brennpunkten, in den Kongo oder in den Irak. Als Basis für das, was bei den Filmaufnahmen mit der ansässigen Bevölkerung entsteht, dient ihm in der Regel das heldenhafte Personal der griechischen Antike: 2019 zum Beispiel kam „Orest in Mossul“ heraus, 2023 „Antigone im Amazonas“. Und nun folgte so etwas wie „Kassandra in Ninive“ oder „Philoktet in Nimrud“ – um nicht erneut Mossul im Titel zu haben.

Und wieder steht Ursina Lardi allein auf der Bühne – wie in „Everywoman“. Damals, bei den Salzburger Festspielen 2020, trat die Schweizer Schauspielerin über Videozuspielungen in Dialog mit einer pensionierten Sonderpädagogin, bei der inoperabler Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert worden war. Es ging also – wie beim „Jedermann“ – ums Sterben.

Mit viel Zynismus

Die Technik der Zeit wie Ort überbrückenden Interaktion wandte Milo Rau auch in seiner „Antigone“ an: Immer wieder blickten in den Filmsequenzen die Darstellerinnen überlebensgroß von der Leinwand im Hintergrund herab – direkt in die Augen der anderen auf der kargen, mit Erde bedeckten Bühne.

Bei „Die Seherin“ ist das Setting mehr oder weniger gleich: Das Ödland im anfänglichen Standbild setzt sich, von Anton Lukas naturalistisch mit Zivilisationsmüll angereichert, auf der Spielfläche fort. Dann erscheint Ursina Lardi betont leger in Jeans, um von sich zu erzählen – wie bei einem Vortrag.

Natürlich berichtet sie nicht (nur) von sich: Die Biografie ihrer Figur ist kompiliert. Milo Rau dürfte – der Text im Programmheft legt dies nahe – auch seine eigene Geschichte hineingepackt haben: Er sei in jungen Jahren „als Soziologe und Kriegsreporter unterwegs“ gewesen.

Er lässt also eine Kriegsfotografin ohne große Emotionen, aber mit viel Zynismus erzählen, warum die Gräuel sie derart triggern. Einer Kassandra gleich hätte sie gespürt, wann sich wo etwas ereignen würde. Und so sei sie jedes Mal vor allen anderen an Ort und Stelle gewesen, um das entscheidende Foto schießen zu können.

Doch die Strafe der Götter folgte: Die eiskalte Blondine sei, sagt sie, auf dem Tahrir-Platz von Kairo zunächst gerettet, aber dann vergewaltigt worden. Ähnlich erging es der Tochter des Priamos als Trophäe des siegreichen Agamemnon. Der Titel „Die Seherin“ liegt daher irgendwie nahe. Dass die Stückentwicklung von „Philoktet“ inspiriert worden sein soll, ist hingegen eher eine Behauptung.

Mit großer Empathie

Gegengeschnitten mit der nicht ganz nachvollziehbaren Lebensgeschichte der Fotografin, die übergangslos Ensemblemitglied der koproduzierenden Schaubühne wird, ist jene eines Irakers, dem von der IS die rechte Hand abgehackt wurde: Azad Hassan nähert sich in den Projektionen mehrfach langsam aus dem Lager ganz hinten – und dann erzählt er, wie es dazu kam. Er redet in die Kamera, dann senkt er den Blick nach links unten, er fokussiert auf jenen Punkt mit den Autoreifen im Bühnenbild, auf denen Ursina Lardi sitzt. Und wenn sie ihre Position wechselt, verfolgt er sie mit den Augen.

Der bekannte Effekt nutzt sich auch dieses Mal bald ab. Zwischendurch führt Azad Hassan in Einspielungen die kriegsgeile Fotografin (oder doch die echte Ursina Lardi?), mit Kopftuch durch das Lager. Immer wieder verwischen die Grenzen, was authentisch ist und was Theater. Denn die Schauspielerin schneidet sich nach Florentina-Holzinger-Manier vor den Augen aller ins eigene Fleisch – Milo Rau macht aber alsbald offensichtlich, dass die Zoom-Aufnahme der blutenden Wunde eine Konserve ist. Das Video vom Handabhacken (ohne den tragischen Moment) hingegen ist wohl kein Fake. Was will uns Rau also sagen?

Nach 90 Minuten verbeugt sich Azad Hassan mit Ursina Lardi. Man wird den Eindruck nicht los: Auch dieses Mal (wie in Salzburg) nutzt Milo Rau die Betroffenheit über ein reales Schicksal, um für seine mittelmäßige Fingerübung besonders viel Applaus zu generieren.

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