Thomas Bernhard auf Französisch: Trommelwirbel im Taubenschlag

Da ist die weiße, einem Bunker gleichende Wohn-Box schon ziemlich abgewrackt: Die Konrads sind Prepper – und verzweifeln an der Isolation in der Pandemie.
Im aufgelassenen Kalkwerk soll es so und so passiert sein, vielleicht war es auch anders, und Konrad soll dieses und jenes gesagt haben, jedenfalls hätte Wieser das gesagt, und wenn es nicht Wieser war, dann Höller oder Fro. Ohne Punkt und Absatz stimmt zwar nicht, aber zumindest ohne Absatz erzählt Thomas Bernhard in seinem Roman „Das Kalkwerk“ (1970) von einer Ehehölle: Konrad will endlich in der oberösterreichischen Einschicht seine Abhandlung über das Gehör, für die er zwei Jahrzehnte lang Forschungen angestellt und Material gesammelt hat, zu Papier bringen, aber dauernd wird er gestört – zumeist von seiner „verkrüppelten“ Frau.
Auch wenn verstörend viel geredet wird: Es gibt keine direkte Rede. Beim Lesen gerät man aber, hat man den Rhythmus gefunden, in einen unglaublichen Sog, der einen unentwegt weiterlesen lässt. Ein dramatischer Stoff ist „Das Kalkwerk“ dennoch nicht, wiewohl es einen zu Weihnachten verübten Mord – heutzutage würde man von „Femizid“ sprechen – zu hinterfragen gilt. Denn wäre er ein solcher gewesen, hätte Bernhard, der auch als Dramatiker höchst erfolgreich war, ein Stück geschrieben.
Séverine Chavrier, laut den Wiener Festwochen eine „französische Star-Regisseurin“, ließ sich davon nicht abschrecken. Sie hat bereits Thomas Bernhard inszeniert: Im Programmheft wird einmal „Wittgensteins Neffe“ als Grundlage von „Nous sommes repus mais pas repentis“ genannt, das andere Mal „Ritter Dene Voss“, vielleicht basierte die Produktion auf beiden, denn immerzu geht es um den Wahnsinn.
In einfacher Sprache
Auch hier. Doch Chavrier missbraucht das Kalkwerk als Steinbruch: Mit dem Presslufthammer hat sie ein paar Brocken herausgebrochen, sie zermahlen und zu Dialogen angerührt, denen in der Rückübersetzung aus dem Französischen der Bernhard-Duktus naturgemäß völlig abhandengekommen ist: Mehr als einen Gliedsatz oder kunstvolle Verschachtelungen gibt es nicht. Man könnte sagen: Bernhard in einfacher Sprache.
Für ihren Beton (so nennt sich ein anderer Bernhard-Roman mit ähnlicher Thematik) haute Chavrier neben den Vorkommnissen im Kalkwerk noch andere Ingredienzen in den Trommelmischer. Denn „Ils nous ont oubliés“ (Sie haben uns vergessen), so der Originaltitel, kam Anfang 2022 heraus – und verarbeitet die Isolation in der Pandemie, die einen ja wirklich in den Wahn treiben konnte.
Statt Abschottung (ohne Telefon), wie bei Bernhard, wird bei Séverine Chavrier recht viel über das Handy kommuniziert. Und statt des Hausknechts Höller, der, weil es im Kalkwerk totenstill war, die Gendarmerie verständigte, gibt es nun eine Krankenschwester. Aus dem „Endspiel“ – bei Samuel Beckett sitzt der blinde und gelähmten Hamm in einem Rollstuhl, bei Séverine Chavrier schiebt Konrad seine Frau im Lehnstuhl mit einer Sackrodel herum – wird mithin eine „Geschlossene Gesellschaft“.
Séverine Chavrier bezieht sich zudem auf „Shining“ von Stephen King (1977). Denn bekanntlich wird auch Jack Torrance in der verschneiten Abgeschiedenheit wahnsinnig. Aber in „Ils nous ont oubliés“ wütet nicht der Schriftsteller mit der Axt: Glatzkopf-Bernhard-Lemuren schlagen zu Beginn der vierstündigen Aufführung, die noch bis 7. Juni bei den Wiener Festwochen im Museumsquartier zu sehen ist, Löcher in den konradischen Wohnquader: Mit ihnen dringt man in ein eigentümliches Environment ein.
Weil das Ehepaar zumeist verdeckt in einer Ecke hockt, gibt es sehr viel Video: Auch der Draufblick von oben auf die Laborsituation wird ermöglicht. Und die düstere Bühnenlandschaft – die weiße, einem Bunker gleichende Wohn-Box steht in einem schütteren Nadelwald samt Beobachtungsturm – wird, wie sich zeigt, von Überwachungskameras kontrolliert. Hier haben sich Prepper häuslich eingerichtet, Gewehre und Most gibt es zu Genüge.
Mit hallenden Schlägen
Séverine Chavrier gelingen atemberaubende David-Lynch-Bilder, sie arbeitet geschickt mit Projektionen auf mehreren Tiefenebenen. Alle Geräusche werden ohrenbetäubend wie nachhallend verstärkt, das Gebell und das Krächzen klingen bedrohlich, immerzu flattern (echte) Tauben herum. Und Alexandre Babel untermalt das Geschehen kraftvoll – gegen Ende hin mit einem Wahnsinns-Trommelwirbel zu Synthi-Anklängen an „Careful with That Axe, Eugene“. Laurent Papot hat als Konrad Unmengen Text zu bewältigen, drei Schauspielerinnen übernehmen alle anderen Rollen.
Eine respektable Leistung. Doch Chavrier erschlägt einen mit ihren andauernden und enervierenden Reizüberflutungen: Das Publikum dezimierte sich in den zwei Pausen durchaus nachvollziehbar auf etwa die Hälfte.
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