"Ein gefräßiger Schatten" bei den Festwochen: Wie der Berg ruft

Hängen sich rein: Stefan Klein und Manuel Harder klettern parallel und doch so unterschiedlich auf einen "Berg".
Im 14. Jahrhundert schrieb Petrarca den Brief „Die Besteigung des Mont Ventoux“. Es ist die erste Beschreibung einer Bergbezwingung und damit gleich eine Metapher für den Aufstieg zum Himmel. Der Versuch, sich Gott näher zu machen, der Versuch, sich über etwas zu erheben. Der Sport des Bergsteigens ist deshalb auch etwas zutiefst Menschliches. „Keine andere Spezies geht an Orte, zu denen sie nicht hin muss“, heißt es einmal in „Ein gefräßiger Schatten“, in dem Petrarcas Text immer wieder hervorgeholt wird. Das Stück von Mariano Pensotti hatte am Freitag Premiere bei den Wiener Festwochen (im Bildungscampus in Atzgersdorf) und tourt jetzt durch die Bezirke.
Filmreifes Abenteuer
Zwei Männer stehen auf der Bühne, der eine ist ein Bergsteiger, der andere ein Schauspieler. Letzterer soll ersteren in einem Film spielen. Denn Martin hat ein drehbuchreifes Abenteuer erlebt: Er wollte als Hommage an seinen dort verunglückten Vater die Anapurna im Himalaya besteigen, er gerät aber in einen Schneesturm und kann sich in eine Höhle retten. Dort findet er die gefrorene Leiche seines vor Jahrzehnten verschollenen Vaters. Der Schauspieler sieht in der Rolle des Bergsteigers die Chance, seinem öden Serienleben als TV-Kommissar zu entfliehen.
Die beiden erzählen parallel, was wirklich passiert ist und was der Film daraus gemacht hat – das hat einige Pointen zur Folge. Sehr schön zum Beispiel, wenn im Film eine heroische Lebensrettung geschildert wird, die Martin so ganz nebenbei geschafft hat, die es „in echt“ aber gar nicht gegeben hat. Oder wie Martin sagt: „Oft passiert am Berg einfach gar nichts.“
Bin ich so?
Nicht nur der Schauspieler, sondern auch Thomas selbst fragen sich: „Ist Thomas so? Bin ich so?“ Tatsächlich werden die Grenzen zwischen Fiktion und Wahrheit hier immer wieder herausgefordert – ein Thema, das Autor und Regisseur bei den Festwochen 2023 im Stück „La Obra“ über Nachkriegs-Dichtung und -Wahrheit in Argentinien noch eindringlicher behandelt hat. In „Ein gefräßiger Schatten“ geht es eher ums Persönliche. Um die Mythen, die man sich selbst als Person verpasst oder den Personen, die einen beeinflussen – in dem Fall Vätern.
Beim verschwundenen Vater muss man unwillkürlich an den verunglückten Bruder von Reinhold Messner denken. Auch sonst gibt es einige Anknüpfungspunkte aus Nachrichtenschlagzeilen. Etwa über den sterbenden Sherpa, an dem mindestens 30 Menschen vorbeigegangen sind, weil ihnen der Gipfel wichtiger war. Oder die Tatsache, dass durch die Erderwärmung die Berge ihre Toten immer öfter freigeben.
Heikler Transport
Es mag unwahrscheinlich erscheinen, dass ein Stück, das sich sowohl mit Umweltfragen als auch mit philosophischen und dazu noch psychologischen Überlegungen beschäftigen will und dann neben ein bisschen Kapitalismuskritik (Massentourismus auf dem Mount Everest!) auch noch eine Meta-Analyse über den heiklen Transport von Erlebnis in Kunst sein soll, einen kurzweiligen, aber nicht oberflächlichen Theaterabend ergibt. Mariano Pensotti und den fabelhaften Schauspielern Stefan Klein und Manuel Harder gelingt es in 90 Minuten – so lange, wie ein Film eben dauert.
Und Petrarca? Der war überhaupt nie auf dem Berg.
Wiederholungen bis 22. Juni in allen Bezirken Wiens.
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