Und so erging es ihm wie Ikarus
Nach dem Unfall sieht er zum ersten Mal den Inhalt der Handtasche seiner Mutter. Viel war nicht drin. Was hatte er überhaupt vom Leben seiner Eltern gewusst?
Warum das Auto am helllichten Tag auf einer schnurgeraden, trockenen Straße auf die Gegenfahrbahn geraten und in einen Tankwagen geprallt war, bleibt wohl ungeklärt. Der Vater, soeben pensioniert, hatte sich auf seinen Ruhestand gefreut.
Der plötzliche Tod der Eltern sowie die Ankündigung seiner Lebensgefährtin, dass sie ein Kind von ihm erwartet, stürzen den Architekten Stefan Zell in eine Krise. Warum gerade von ihm? Es sollte nicht noch ein Kind von ihm geben. Künstler hatte Stefan Zell werden wollen. Dagegen sprach die Lebensmaxime des Vaters, der einst ein glühender Nationalsozialist gewesen war: unauffällig bleiben. Stefan Zell aber suchte die Nähe der Sonne und stürzte ab wie Ikarus.
„In der Nähe der Sonne“, 1985 erstmals erschienen und nun vom Verlag Jung und Jung wieder aufgelegt, ist der vorläufig letzte Roman des Gmündner Schriftstellers und Drehbuch- sowie Hörspielautors Gernot Wolfgruber, der am Freitag seinen 80. Geburtstag beging. Fünf Romane hat er zwischen 1975 und 1985 veröffentlicht, darunter das von Axel Corti verfilmte Arbeiterschicksal „Herrenjahre“. Seither hat er Auszüge, aber keinen neuen Roman veröffentlicht.
Wolfgruber gehörte in den frühen 1980er-Jahren mit Franz Innerhofer zu den berühmtesten Vertretern der österreichischen sogenannten Anti-Heimatliteratur. Deren autofiktionale Prosa nannte man „neue Innerlichkeit“. Der Germanist Wendelin Schmidt-Dengler lobte Wolfgrubers Sicherheit der Sprache, seine Konzentration und die bannende Intensität der Darstellung.
Wie liest sich sein letzter Roman heute? Das Gefühl des Protagonisten, dass womöglich etwas schiefläuft auf dieser Welt, ist immer noch aktuell. Beklemmung und Entfremdung sind alterslos.