Landestheater-Chefin Marie Rötzer: "Ja, ich befürchte weitere Einschnitte“

Am Freitag startet Marie Rötzer in ihre letzte Saison als Chefin des Landestheater Niederösterreich, bevor sie das Theater in der Josefstadt übernimmt. Das Motto der letzten Spielzeit: „Kann Kunst die Welt retten?“ Ein Interview über Theater, Verschwörungstheorien und Sparen.
KURIER: Es gibt im Journalismus eine allgemeingültige Regel: Wenn in der Schlagzeile eine Frage steht – „Rettet das E-Auto allein das Klima?“ –, ist die Antwort immer „Nein“. Demnach wäre „Nein“ auch die Antwort auf Ihr Saisonmotto. Stimmt’s?
Marie Rötzer (lacht): Deshalb ist das Motto auch als Fragestellung formuliert. In der Fantasiewelt des Theaters ist alles möglich, deshalb würde ich jetzt nicht kategorisch „Nein“ sagen. Aber es ist so einfach natürlich nicht in der Welt. Das Theater ist jedenfalls eine Institution, die gesellschaftlich wirken muss und deshalb schon optimistisch bleiben muss. Im besten Fall sitzt im Publikum ein Querschnitt der Gesellschaft, der sich mit sich selbst konfrontiert und mit anderen Austausch sucht.
Manchmal aber hat man den Eindruck: Die Menschen gehen genau so aus dem Theater wieder hinaus, wie sie hineingegangen sind.
Wenn wir den Menschen Mut zusprechen, mit den Geschichten Brücken bauen zu Werten wie Solidarität, Toleranz – dann kann unser Publikum diesen Optimismus an seine Umgebung weitergeben.
Aber nach Orwell oder Kafka im Landestheater gehe ich vielleicht sogar weniger optimistisch nach Hause?
Bei Kafka finden sich unglaublich viele humoristische Momente und skurrile Szenen. Kafkas Absurditäten bringen uns sogar zum Lachen, zum Beispiel in der Konfrontation mit einer starren Bürokratie. Wenn die Hauptfigur K. im „Schloss“ auf die Ignoranz von Beamten trifft, ist das für viele eine vertraute Alltagssituation. Wir können das mit einer Portion Ironie sehen und sagen: Das habe ich schon bei Kafka gelesen.
Das ist hilfreich, aber damit rettet man die Welt noch nicht. Kann Theater hier noch etwas leisten?
Wie bei Kafka befinden wir uns heute in einer Welt, in der uns manche Momente verrätselt erscheinen, die schwer oder gar nicht zu verstehen sind. Das kann einer der Gründe sein, dass sich ein Teil der Gesellschaft abspaltet und ihre eigenen, oft skurrilen Erklärungsmuster und Verschwörungstheorien entwickelt. Das Theater kann die Menschen an einem Ort zusammenbringen: Unsicherheit, vielleicht auch Wut oder Nachdenklichkeit kann ein gemeinsames Gefühl sein, und wir finden durch das Erzählen von Geschichten die Möglichkeit, mit diesen Situationen positiv und gemeinsam umzugehen. In einer säkularisierten Gesellschaft gibt es das kaum mehr, dass man zusammen ein Ritual erlebt. Das Theater aber bietet diese Möglichkeit. Und ich glaube, dass wir Menschen diese Form von sozialen Momenten brauchen, dass wir diese Rituale von gemeinsamen Erlebnissen brauchen und Räume, in denen Kultur stattfindet.

Jetzt gibt es im Therapiesprech auch den Begriff der Therapierbarkeit: Es kann nur dem geholfen werden, der dazu bereit ist. Spricht man im Theater nicht ohnehin nur zu den Bekehrten – und erreicht jene, die dieses Angebot besonders brauchen würden, eh nicht?
Wir hoffen auf einen Ping-Pong-Effekt: Dass jene, die vielleicht aus Tradition ins Theater gehen, diese Leidenschaft auch zu ihren Freunden, ihren Nachbarn, zu ihrer nächsten oder sogar in die übernächste Generation weitertragen. Damit auch in Zukunft erkannt wird, dass das Theater unser alltägliches Leben bereichern kann. Das Theater muss dabei immer neue Formen erfinden, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Es war mein erklärtes Ziel, als ich in St. Pölten angetreten bin, mit einer Gleichzeitigkeit von verschiedenen Ästhetiken und künstlerischen Formaten unterschiedlichste Menschen anzusprechen. Ich denke, wir haben dieser Herausforderung gut entsprochen.
Dennoch scheint mir Ihre letzte Saison – Orwell, Kafka, Maria Lazars NS-Drama „Der blinde Passagier“ – insgesamt ein Mollakkord.
Die besten Theaterstücke bestehen aus einer Dur- und Moll-Textpartitur zugleich. Wir starten die Spielzeit mit einem Dur-Akkord, „Die eingebildete Kranke“ in der Regie von Leander Haußmann mit Uschi Strauss in der Hauptrolle. Und am Schluss kommt mit „Speed – Auf den letzten Metern“ noch eine Trash-Komödie. Auch Tschechows „Die Möwe“ ist keine finstere Tragödie, sondern als Komödie ausgewiesen! In der „Möwe“ befinden sich die Figuren in einer Art Kulturbubble. Schon zu Tschechows Zeiten haben sich die Menschen vor der Wirklichkeit zurückgezogen, sie wollten ihre Sehnsüchte und Träume ausleben, schafften es aber nicht. Heute flüchten wir nicht auf das ruhige Tschechow’sche Landgut, sondern in die geräuschvollen Kanäle der Sozialen Medien und schrecken davor zurück, die Wirklichkeit zu erleben. Die Sozialen Medien, wie Tiktok und Instagram, sind zu einer Riesenkonkurrenz für das Theater und die klassischen Kulturinstitutionen geworden. Wir nützen Künstliche Intelligenz und lassen dabei zu, dass Algorithmen unsere Denkstrukturen beeinflussen. Um nicht abzudriften, müssen wir unterscheiden lernen zwischen Fake News und Wahrheit und ein Gespür dafür bekommen, wenn Meinungsmacher und Politiker manipulativ agieren. Da müssen wir ansetzen.
Und wie?
Mit dem Kitt der Kultur, mit Schauspiel und Literatur, die Alternativen aufweisen. Wir als Kulturschaffende müssen ganz klar für die Demokratie kämpfen, für Freiheit und Vielfalt. Dass Menschen sich entscheiden, eine rechtsradikale Partei zu wählen, das muss eine Gesellschaft aushalten. Aber wir dürfen nicht in Lethargie und Schockstarre verfallen, sondern die Werte der Demokratie hochhalten.
Die politische Landschaft auch in Niederösterreich hat sich während Ihrer Intendanz stark verändert. Hatte das Auswirkungen? Sorgt man sich um die Finanzen?
Bis jetzt ist der finanzielle Rahmen gleichgeblieben, obwohl sich die Mittel durch Inflation und Preissteigerungen reduzieren. Aber ja, ich befürchte weitere Einschnitte. Man darf davor nicht die Augen verschließen. Wenn ich nach zehn Jahren das Theater übergebe, haben wir als Landestheater-Team mit nachhaltigen Eigenproduktionen, einem eigenen Ensemble und hochkarätigen internationalen Gastspielen ein Theater mit starker Ausstrahlung weit über seine Grenzen hinweg gestaltet. So hoffe ich, dass die Politik weiterhin auch meiner Nachfolgerin die nötigen Mittel für einen lebendigen kulturellen Leuchtturm bereitstellt, denn vor allem die Kulturinstitutionen in den Bundesländern sind identitätsstiftende, kulturelle Nahversorger.
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