Als Erzähler fungiert weiterhin Jean, ein eher unscheinbarer Experte für Materialleitfähigkeit. Und Michael Maertens muss gar nicht erwähnen, dass sein unbeschnittener Anti-Held den Penis zu einer Klitoris eingerollt hat, um die Eichel vor der ausgeborgten Badehose zu schützen: Dieser Jean ist ein typisches Maertens-Weichei, ungemein sympathisch in seiner Hilflosigkeit. Dass die Dinge seit dem Tod der Mutter „aus dem Ruder gelaufen sind“, deutet er bereits früh an – und er nimmt etliche Umwege, um eine jüdische Familie zu porträtieren, in der man sich nicht für die Vergangenheit interessiert hat. Bis es zu spät ist.
Doch nach dem Begräbnis der Mutter äußert Joséphine, die Tochter von Jeans Bruder Serge, den Wunsch, das KZ Auschwitz samt Birkenau besichtigen zu wollen. Mit von der Partie ist auch Nana, die Schwester von Jean und Serge: „Es beginnt ein aberwitziger Roadtrip“, wie es im Programmheft heißt, es kommt zur „Belastungsprobe ihrer Beziehung, wenn sie schließlich durch das ehemalige Vernichtungslager wandeln und mehr oder weniger erfolglos versuchen, mit ihrer Betroffenheit in Kontakt zu kommen“. Als „Gott des Gemetzels“ schickt Nanas Sohn ein SMS – und Roland Kochs Serge kriegt einen Zuckaus, der sich gewaschen hat. Kollateralschäden bleiben nicht aus. Aber auch der aufbrausende, permanent rauchende Serge, Fan von The Who („I’m Free“) im Stooges-T-Shirt, ist ein ziemlich armes Würstl.
Der facettenreichen Komplexität des Romans wird Lily Sykes leider nicht wirklich gerecht. In ihrer Reduktion auf die zentralen Figuren bekommt nur Maurice (Martin Schwab) Entfaltungsmöglichkeiten – und auch dieser Zeitzeuge muss sterben. Was aber noch schwerer wiegt: Der Regisseurin gelingt mit ihrem Team auch formal keine Umsetzung, die zwei Stunden lang fesselt. Es werden eben Klischeebilder reproduziert – Inge Maux singt als prächtig ausstaffierte Zita Feifer über „A yiddishe Mame / Es gibt nisht besser oif der velt“. Im Jüdischen Museum Wien räumt man gegenwärtig mit diesem Missverständnis und 99 anderen auf.
Man sieht dort auch ein Video, in dem ein Überlebender mit seinen Enkeln in etlichen Lagern, darunter Auschwitz, zu „I Will Survive“ tanzt. Bühnenbildner Márton Ágh hat sich hingegen für eine äußerst sachliche Variante entschieden, den wenig ansprechenden Wartesaal eines Altersheimes oder einer Klinik. Im Hintergrund reiht sich, fast kafkaesk, Tür an Tür – durchnummeriert. Nur in der Mitte fehlt die Zahl 300. Die Auflösung folgt, wenn die Schicksalsgemeinschaft nach einer Autofahrt mit Luftlenkrad – diese Szene erinnert stark an das arme Kabarett der 1950er-Jahre – das Tor zum KZ Auschwitz betritt.
Weit mehr traut sich Jelena Miletić; doch ihre zum Teil sehr farbenfrohen, grotesken Kostüme lassen die Figuren, darunter die Joséphine der Lilith Häßle, fast wie Karikaturen wirken. Trotz zahlreicher Metaphern und bedeutungsvoller Zeichen (sieben Sessel, sieben Türen) erreicht der Abend nur in wenigen Momenten Tiefe. Natürlich berührt es, wenn Alexandra Henkel als wunderbar kämpferische Nana zum Schluss die Hand zur Versöhnung ausstreckt. Der respektable Betroffenheitssonderapplaus erstaunte aber dann doch.
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