Nationalbibliothek: Johanna Rachinger kehrt nicht zurück
Johanna Rachinger führte die ÖNB aus monarchistischen Strukturen ins 21. Jahrhundert.
Die Tragödie der Johanna Rachinger dauert bald ein halbes Jahr. Anfang Juli ließ sie einen Termin verstreichen, ohne abzusagen, was überhaupt nicht ins Bild dieser äußerst gewissenhaften und korrekten Managerin passte. Nun ist es Gewissheit: Die Oberösterreicherin, geboren am 9. Jänner 1960 in Putzleinsdorf, kehrt nicht mehr an die Nationalbibliothek zurück.
Am 25. November wurde die Generaldirektorin von Vizekanzler Andreas Babler (SPÖ) „aus gesundheitlichen Gründen“ von ihrer Funktion abberufen. Denn, so die Begründung: „Die Folgen einer Sturzverletzung lassen eine Rückkehr in ihre Funktion als Geschäftsführerin in absehbarer Zeit nicht zu.“
Job ausgeschrieben
Der mehrfach verlängerte Vertrag wäre Ende 2026 ausgelaufen – und Johanna Rachinger spielte mit der Idee, danach ins Mühlviertel zurückzukehren. Die turnusmäßige Ausschreibung ihrer Funktion stand daher an. Und sie wurde bereits am 15. November – von der Öffentlichkeit unbemerkt – veröffentlicht. Gesucht wird aber nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine wirtschaftliche Geschäftsführung. Und diese bereits ab 1. Oktober 2026, denn bis zum 30. September läuft der Vertrag von Richard Starkel, der die ÖNB derzeit interimistisch leitet.
Beide Stellen werden für fünf Jahre besetzt, die Bewerbungsfrist endet am 30. Dezember. Vorausgesetzt wird im Falle der Generaldirektion ein abgeschlossenes Studium, vorzugsweise aus dem Bereich der Geisteswissenschaften, oder der Nachweis vergleichbarer Kenntnisse in bibliothekarischen Bereichen.
Die Mitarbeiter der ÖNB wünschen Rachinger in einer Pressemitteilung „eine baldige und vollständige Genesung“ und danken ihr „für ihre prägenden, zukunftsweisenden Leistungen“. Das liest sich erschreckenderweise wie ein Nachruf zu Lebzeiten: „Bedingungsloser persönlicher Einsatz, Mut zur Innovation und Leadership als Führungspersönlichkeit prägten das Wirken von Dr. Johanna Rachinger.“ Und doch fasst dieser Satz all das zusammen, was Johanna Rachinger, zuvor Geschäftsführerin des Ueberreuter Verlags, von 2001 an realisiert hat. Denn sie holte die ÖNB mit verkrusteten Beamtenstrukturen, die an die Zeiten der Monarchie erinnerten, mit unglaublichem Punch ins 21. Jahrhundert.
Das erste Großprojekt war die Ausgliederung der Institution (analog zu den Bundesmuseen) in eine wissenschaftliche Anstalt öffentlichen Rechts. Mit Gespür für richtungsweisende Themen initiierte sie zahlreiche Veränderungen: Die Positionierung der ÖNB „als modernes Bildungs- und Kulturzentrum, als dienstleistungsorientiertes Informations- und Forschungszentrum und als herausragende Gedächtnisinstitution des Landes trägt“ – so die Pressemitteilung – „maßgeblich ihre Handschrift“.
Kollektives Büffeln
Nach der Modernisierung der Serviceeinrichtungen war es plötzlich hip, in der ÖNB zu lernen – auch wenn man sich gar keine Bücher auslieh. Die Lesesäle in der Neuen Burg wurden zum Ort des kollektiven Büffelns, die Zahl der ausgegebenen Jahreskarten stieg kontinuierlich.
Zudem machte Rachinger die ÖNB zur Vorreiterin hinsichtlich Digitalisierung. Ein exzellentes Recherchetool wurde das online abrufbare Zeitungsarchiv „Anno“: Es bietet mehr als 1.600 Titel mit 28 Millionen Seiten an. Derzeit stellt die ÖNB in ihren Portalen nahezu 3,8 Millionen digitalisierte Objekte zur Verfügung, darunter auch die Bestände des Prunksaals, die schon lange nicht mehr ausgeliehen werden dürfen.
Eine weitere Herausforderung war das NS-Erbe. In ihrer Anfangszeit behauptete Rachinger bei einer Podiumsdiskussion, dass die ÖNB keine Altlasten hätte. Sie war allerdings von ihren damaligen Mitarbeitern falsch informiert worden. Belehrt und vorgeführt, machte sie kurzen Prozess: Sie verpflichtete – völlig unüblich damals – eine Provenienzforscherin von außen, die das ruhmlose Kapitel gegen Widerstände penibel aufarbeitete. Natürlich gab es, wie sich herausstellte, Abertausende Bücher, die in der NS-Zeit in den Besitz der ÖNB übergegangen waren. Rachingers Haus war 2003 die erste Kultureinrichtung des Bundes, die einen seriösen, wenngleich vorläufigen Endbericht vorlegte. Bücher, die aufgrund fehlender Hinweise nicht restituiert werden konnten, wurden dem Nationalfonds übergeben.
Nebenbei machte Rachinger den Prunksaal zum hoch frequentierten Ausstellungsraum, und sie zog nicht nur ein umfassendes Renovierungsprogramm durch: Seit 2002 befindet sich im Palais Mollard in der Herrengasse die Musiksammlung, das Globen- und das Esperantomuseum. Vor zehn Jahren wurde in der Johannesgasse das einstige Hofkammerarchiv als Literaturmuseum adaptiert. Und weil sie mithelfen wollte, dass es ein Haus der Geschichte der Republik gibt, stimmte Rachinger der Idee zu, dieses organisatorisch der ÖNB anzugliedern. Es ging ihr aber nie darum, Macht anzuhäufen: Sie plädierte, diese Institution in ein eigenes Bundesmuseum zu überführen.
Nie ein Jammern
Rachinger gelang all dies mit Sachlichkeit und Äquidistanz. Und sie jammerte nie übers Budget. Ihr fiel immer etwas ein, um die Einnahmen zu steigern. Das machte sie unangreifbar. Möge sie wieder gesund werden!
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