"Einfache Sprache kann jeder Journalist anwenden", findet "andererseits"

Nikolai Prodöhl (rechts) erklärt, wenn er etwas nicht verstanden hat - dann ist es zu kompliziert für Leserinnen und Leser mit Lernbehinderung.
Der Mangel an Inklusivität in Medien erzeuge einen "Rattenschwanz an demokratischen Problemen". Das Onlinemedium "andererseits" hält dagegen.

Nikolai Prodöhl wäre gerne Vollzeit-Journalist. Doch für ihn gibt es viele Hindernisse auf dem Weg zu seinem Traumberuf. Denn Prodöhl hat eine Lernbeeinträchtigung. Er braucht länger beim Recherchieren und beim Schreiben. Und bei Medien in Deutschland, wo er lebt, und Österreich arbeiten so gut wie keine Menschen mit Beeinträchtigungen – zumindest nicht im redaktionellen Bereich. Seit 2020 hat sich „andererseits“ dieser Nische angenommen: Das Onlinemedium ist dezidiert inklusiv, hier arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Auch Nikolai Prodöhl arbeitet mit. Die Ergebnisse können sich sehen lassen: Für Aufsehen sorgte etwa eine Dokumentation über im Stich gelassene Heimbewohner, die in der Flut im Ahrtal ums Leben gekommen sind. Zuletzt ist ein Print-Magazin zur EU-Wahl in leichter Sprache erschienen, der Onlinewahlhelfer, der komplizierte Europa-Themen einfach formulierte, soll sich auch bei Menschen ohne Behinderung großer Beliebtheit erfreut haben, erzählt Redaktionsleiterin Lisa Kreutzer.

Einfach auf den Punkt

Die Vermittlung von Informationen durch einfache Sprache ist einer der Pfeiler, der das niederschwellige Angebot von „andererseits“ ausmacht. Diese wäre für jeden Journalisten umzusetzen: „Man verwendet keine Fremdwörter, keine Sätze mit mehreren Kommas, keine geschwollenen Sätze: die Dinge einfach auf den Punkt zu bringen, gehört ja eigentlich auch zum guten Stil“, erklärt Kreutzer. 

Man könne das vergleichen mit dem B1-Level, wenn man eine Sprache lernt. Kreutzer denkt, dass vielen klassischen Medien das Gespür fehle, wie groß die potenzielle Zielgruppe ist.  Auf diesem Sprachlevel befänden sich eine Menge: „Das sind etwa Menschen, die gerade erst Deutsch lernen, Menschen mit Lernschwierigkeiten, auch viele alte Menschen – die müssen sich ja auch irgendwo informieren und sie werden vom klassischen Journalismus großteils nicht erreicht. Wer es schwerer hat an unabhängige und gut recherchierte Informationen zu kommen, hat dann auch Probleme gut informierte Wahlentscheidungen für unsere Demokratie zu treffen. An der kleinen Tatsache, dass man komplizierte Sprache verwendet, hängt ein ganzer Rattenschwanz an demokratischen Problemen“, erklärt Kreutzer. 

"Einfache Sprache kann jeder Journalist anwenden", findet "andererseits"

Alle helfen allen

Der Vorteil in der Redaktion von „andererseits“ ist, dass hier Journalistinnen und Journalisten mit Lernschwierigkeiten mitarbeiten, die die Texte gegenlesen und sagen, ob sie alles verstehen. Für Texte in Leichter Sprache braucht aber auch „Andererseits“ Übersetzerinnen – denn diese ist noch vereinfachter und hat sehr strenge Regeln. Dass Vereinfachung auch Gefahren mit sich bringt, etwa wenn in Radionachrichten in leichter Sprache die indirekte Rede einer Hamas-Aussage zur direkten wird und somit die Objektivität verloren geht, kann laut Kreutzer vermieden werden: „Man muss immer genau bleiben. Dinge vereinfachen heißt nicht, sie zu verkürzen. Auch deshalb gibt es für die Übersetzungen in Leichte Sprache auch eine eigene Ausbildung“.


Wie viele Medien-Startups muss „Andererseits“ an seiner Finanzierung tüfteln. Der größte Teil des angebotenen Journalismus ist kostenlos zugänglich – die Produktion kostet aber natürlich trotzdem Geld. Das gedruckte Magazin fungiert als eine Art Türöffner „Man hat gerne etwas in der Hand, wenn man ein Abo bestellt. Das führt dann weiter auf unsere Online-Aktivitäten. Unsere großen Recherche-Projekte wie die Dokus geben uns journalistische Glaubwürdigkeit.“ 

Grundbetrieb gedeckt

Zuletzt war ein erneuter Abo-Aufruf erfolgreich – 2000 Abos machen es möglich, den Grundbetrieb zu decken, also Honorare zu zahlen. In Zukunft will „andererseits“ aber Menschen mit Behinderung als Journalisten anstellen und ihnen eine langfristige Perspektive mit fairen Gehältern bieten. 

Wie zum Beispiel Nikolai Prodöhl. Er lebt in Hamburg und hat schon verschiedene journalistische Jobs gemacht: Von den Special Olympics in Berlin hat er mit einem Blog berichtet, er hat eine Kolumne namens „Inklusiv“ beim Tagesspiegel und den Podcast „Die guten News“. Auch bei „andererseits“ hat er Podcasts produziert und nun seine Leidenschaft für das Schreiben entdeckt. Er hat etwa eine Reportage über das Muttersein mit Behinderung geschrieben. Prodöhl arbeitet häufig zusammen mit Kollegen ohne Beeinträchtigung: „Wir recherchieren, führen Interviews und schreiben die Texte. Auch alleine schreibe ich Artikel, wie beim Newsletter, wo ich recherchiere und den Text verfasse. Anschließend wird die Grammatik und Rechtschreibung verbessert“, erzählt Prodöhl.

Nach seiner Erfahrung werden in Medienunternehmen „meist nur Journalisten eingestellt, die ein Studium oder eine Ausbildung absolviert haben. Für mich ist das nicht möglich, da ich eine Förderschule besucht habe und danach direkt in einer Werkstatt für Behinderte Menschen gelangt bin.“ Aber auch die Bürokratie legt Prodöhl, der nach wie vor in der Werkstatt arbeitet, Steine in den Weg: „Wenn ich ein Honorar bekomme, darf ich das Geld nicht behalten, da es mir dann auf die Grundsicherung angerechnet wird. Deswegen nehme ich es gar nicht an, weil es dann noch mehr Arbeit mit der Buchhaltung bedeutet. Bei Sportveranstaltungen wie den Special Olympics muss ich immer schauen, wer meine Spesen bezahlt, weil ich kein Geld annehmen darf. Das ärgert mich sehr und macht mich verzweifelt.“ Trotzdem gibt er nicht auf, seinen Wunsch zu erfüllen. „Mein Traumberuf wäre es Sportreporter zu sein, wo ich die Spiele der 1. und 2. Liga kommentiere und Interviews mit den Spielern führe.“ 

Ausgeschlossen von Medienförderung

Weil „andererseits“ Menschen wie Prodöhl nicht „vergisst“, hat es gute Chancen, eine neue Förderung zu erhalten, die Gemeinnützigkeit belohnt – der von Ex-„Standard“-Chefredakteur Martin Kotynek gestartete Media Forward Fund. Eine Geldspritze für den österreichischen Medienmarkt, der laut „andererseits“-Geschäftsführerin Clara Porak an einem „strukturellen Problem“ leide: „dass neue, vor allem digitale Gründungen von der klassischen Medienförderung ausgeschlossen sind und es so noch schwerer haben in den Markt einzusteigen. Hier halten wir eine Reform für nötig, um die Medienvielfalt in Österreich zu fördern.“

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