Im Jahr 1988 wanderte Marina Abramović über die Chinesische Mauer – 90 Tage lang, rund 2.000 Kilometer weit. An einer Stelle traf sie auf ihren Partner Ulay, der von einem anderen Punkt aus ebenso lange marschiert war. Es war der Endpunkt der beruflichen und privaten Beziehung der beiden Künstler, die über Jahre die Grenzen der Kunst – und der eigenen Durchhaltefähigkeit – neu definiert hatten. Die Aktion, „The Lovers“, ist heute selbst ein klassisches Werk der Performancekunst.
Für Marina Abramović war der Endpunkt aber auch ein Anfang. Nicht nur, weil ihre Karriere von da an jene Ulays – der gebürtige Deutsche starb 2020 – in den Schatten stellte: Die Künstlerin begann auch, abseits bloßer Darbietungen konkrete Objekte herzustellen und fernöstliche Lehren in ihre Praxis zu integrieren.
„Auf der Mauer bemerkte ich, dass ich mich auf unterschiedlichen Untergründen bewegte“, sagt Abramović im KURIER-Gespräch. „Manche Steine waren wegen des Kupfergehalts grün, andere hatten Eisen, andere Lehm. Und ich befand mich jedes Mal in einem anderen Bewusstseinszustand. Man erklärte mir, dass all das einen mythologischen Hintergrund hatte und dass die Mauer eine Reflexion der Milchstraße auf unserem Planeten wäre.“
Energie in Objekten
In der Wiener Galerie von Ursula Krinzinger – die Galeristin begleitete Abramovićs Karriere von Anfangstagen an und leistete einen großen Beitrag zu deren Bekanntheit – ist nun eine neue Werkserie zu sehen, die auf diese Erfahrung zurückgeht ("Energy Clothes", bis 29. 7.).
Wie schon die sogenannten „Transitory Objects“ als direkte Reaktion auf den China-Marsch entstanden, sollen nun spitze Hüte eine „Verbindung mit der kosmischen Energie“ herstellen, wie Abramović sagt. Augenbinden sind als Requisiten gedacht, um den Sehsinn auszuschalten und intensiver zu hören, zu riechen, zu spüren. „Es ist ein Experiment, um herauszufinden, was du über dich selbst lernen kannst.“
Kosmische Energien, geleitet durch Hüte – für den rational gestimmten Menschen ist spätestens hier Stirnrunzeln angesagt. „Das Spirituelle galt immer als eine verbotene Welt, besonders in der zeitgenössischen Kunst“, sagt Abramović, die den Vorwurf, in Esoterik abzugleiten, nicht zum ersten Mal hört.
„Wenn man aber mit der Abramović-Methode konfrontiert wird, findet man heraus, dass sie genau das ist, was man braucht. Bei der Aktion ‚The Artist is Present‘ (2010, Anm.) kamen 850.000 Personen, nur um mir gegenüber zu sitzen und nichts zu tun. Warum? Weil es einen Bedarf nach Ruhe, Konzentration und dem Gefühl gibt, in seiner Mitte zu sein.“
Nur Dauer gibt Power
Von Meditation und anderen spirituellen Praktiken würde sich ihr Zugang dennoch grundlegend unterscheiden, insistiert Abramović. Bei ihr gehe es darum, durch Handlungen, die über einen langen Zeitraum durchgehalten werden, Grenzen aufzulösen und „nackt“ zu werden, wie sie sagt. „Diese Verwundbarkeit ist der Schlüssel zur Verbindung mit dem Publikum.“
Immer wieder exerzierte die Künstlerin diese Beharrlichkeit vor, ging an Extreme. Etwa bei dem Werk „Balkan Baroque“, für das sie auf der Biennale Venedig 1997 wochenlang bei Hitze und Gestank blutige Rinderknochen blank schrubbte. „Die Arbeit hatte mit meiner Scham zu tun, im Balkankrieg nichts tun zu können. Doch das Bild, das ich schuf, kann jetzt in der Ukraine ebenso benutzt werden wie in Syrien und in jedem Krieg“, sagt sie. „Denn man kann das Blut nicht von seinen Händen waschen.“
Die „Abramović-Methode“ war ursprünglich eine Reihe von Übungen, die die Künstlerin für sich selbst entwickelt hatte, um ihre herausfordernden Performances durchzustehen. Mittlerweile lehrt sie die Methode auch in Buchform oder in Seminaren.
Die Teilnehmenden müssen bei Workshops technische Geräte ablegen und fünf Tage ausharren, ohne zu essen oder zu sprechen. Dazu gibt es Übungen wie jene, drei Stunden lang eine Türe auf- und zuzumachen, ohne hindurchzugehen. Irgendwann löse sich die Tür als Barriere auf, sagt die Künstlerin.
Aktionen, die verändern
„Das Ziel ist immer dasselbe: Indem man sich selbst verändert, verändert man auch andere“, erklärt Abramović. Doch es liege nicht an ihr zu beurteilen, ob ihre Praxis besser sei als eine andere, sagt sie: Die Kunst sei nun einmal jenes Feld, in dem sie agiere. In diesem Kontext wirkte Abramović übrigens 1975 bei einer Ritual-Aktion in Hermann Nitschs Schloss Prinzendorf mit. Ebendort wird heute, Sonntag, der dritte Tag des „Sechstagespiels“ posthum umgesetzt (mehr dazu im KURIER am Dienstag).
Wie Nitsch stellte Abramović sicher, dass die Energie einer Aktion auch in Abwesenheit des Schöpfers oder der Schöpferin aktiviert werden kann. Manchmal ist das Medium dafür eine exakte Choreografie, manchmal – wie im Werk „The Life“ von 2020 – digitale Technologie. Und manchmal ist es eben auch ein Bergkristall.
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