Von Marie-Sarah Drugowitsch
Im Burgtheater sorgte am Donnerstag die Lesung „Hallo, hier spricht Nawalny“ für bewegende Momente. Michael Maertens und Katja Kolm brachten mit „Briefe eines freien Menschen“ ein eindringliches Porträt des 2024 verstorbenen Kreml-Kritikers Alexej Nawalny auf die Bühne.
Nach der Uraufführung bei den Salzburger Festspielen im Sommer 2024 gastierte das Stück bereits im Schauspielhaus Zürich und am Thalia Theater Hamburg. Speziell vor dem Hintergrund zweier Jahrestage hat die Lesung nichts an Aktualität verloren: im Februar jährte sich Nawalnys Todestag zum ersten Mal und am Montag der russische Angriff auf die Ukraine zum dritten Mal.
Die Inszenierung ist eine chronologisch geordnete Zusammenstellung aus Nawalnys Gefängnisbriefen an seine Frau sowie seinen Reden bei den Gerichtsverhandlungen, wodurch ein vielschichtiges Bild des berühmten politischen Gefangenen gezeichnet wird. Er erscheint als scharfsinniger Analytiker mit viel (Selbst-)Ironie und liebender Ehemann. Obwohl man keinen unterhaltsamen Abend im engeren Sinne erwarten durfte, gab es für das Publikum auch einiges zu lachen. Nawalnys Anekdoten aus der Haft zeigen, dass er, egal wie aussichtslos die Situation und menschenunwürdig die Gefangenschaft waren, seinen Humor behielt, wenn er beispielsweise bei den russischen Behörden um das Halten eines Kängurus in Isolationshaft ansuchte.
Zur Entstehung der Lesung
Kolm, die auch Idee, Konzept und Textauswahl verantwortet, begann bereits 2021 damit, Nawalnys Gefängnisschriften aus dem Zeitraum von September 2020 bis Februar 2024 zu sammeln. Gemeinsam mit Isolde Schmitt übernahm sie auch die Übersetzung der Texte aus dem Russischen. Als die Festspiele im Dezember 2023 den Abend ankündigten, lebte Nawalny noch. Die politische Brisanz hat das Stück dennoch nicht verloren – im Gegenteil, durch seinen Tod hat es zusätzlich an Tragik gewonnen.
Mit einer ruhigen Stimme und fast regungsloser Präsenz liest Kolm die Antwortbriefe von Julia Nawalnaja, während Maertens Nawalny nicht nur eine Stimme, sondern auch Gestik verleiht. Maertens gelingt es, die „Coolness“ des Oppositionspolitikers spürbar zu machen – so wie man ihn auch aus Videoaufnahmen bei seinen Gerichtsverhandlungen kennt.
Widerstand und Menschlichkeit
Inhaltlich zeigt das Stück Nawalnys scharfe Kritik am russischen Regime, seine schonungslosen Schilderungen der Haftbedingungen und Ausflüge in die russische Geschichte. Dabei durchzieht eine berührende Menschlichkeit die Erzählung, die nicht nur den politischen Widerstand dokumentiert, sondern auch die Geschichte einer tiefen Liebe zweier Menschen erzählt. Die Isolation und die Schikanen, die Nawalny im Straflager sowie der Isolationshaft erlebte, erinnern unweigerlich an die großen Werke der russischen Literatur, Schalamow, Solschenizyn und Dostojewski. An der von ihnen geschilderten Situation hat sich bis heute augenscheinlich wenig geändert.
An diesem Abend wird dem Vermächtnis Nawalnys mit Standing-Ovations gebührend Tribut gezollt. Die Inszenierung ist ein eindrucksvolles Zeugnis, wie Menschlichkeit auch unter unmenschlichen Bedingungen bewahrt werden kann.
Kommentare