Paul Gessl leitet seit 25 Jahren die Kulturholding NÖKU. Zum Jubiläum spricht er über die Konkurrenz zu Wien, Macht, die Bundesmuseen und das, was man in der Kultur künftig hinterfragen muss.
Wenn man sich aus der Kulturlandschaft Niederösterreichs das wegdenkt, was heute selbstverständlich ist, aber vor 30 Jahren noch gar nicht da war, dann ist es doch einigermaßen erstaunlich: Grafenegg, die Museumsmeile in Krems, das Festspielhaus, das Haus der Geschichte und vieles mehr bezeugen, wie sehr sich das Land zuletzt in Richtung Kultur umorientiert hat.
Ein entscheidender Faktor dabei war die NÖKU (siehe Info unten). Die seit ihrer (kürzlich mit einem Symposium gefeierten) Gründung vor 25 Jahren von Paul Gessl geleitete Kulturholding versammelt unter ihrem Dach viele der wichtigsten Kulturinstitutionen des Bundeslandes. 2026 zieht sich Gessl zurück. Zeit für ein Resümee im KURIER-Gespräch.
Bei der Gründung der NÖKU ging es, wie Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) beim 25-Jahr-Jubiläum sagte, in Niederösterreich stark darum, „aus dem Schatten Wiens“ herauszutreten. Dafür suchte man sich mit der Kultur ausgerechnet jenen Bereich aus, für den Wien weltberühmt ist. Das war schon sportlich, oder? „Aber die Herangehensweise war ja nicht, etwas nachzumachen, sondern anders zu machen“, sagt Gessl. „Um die Frage zu beantworten: Wie schaffen wir mit künstlerischen Positionen ein eigenes Profil?“ Diese bewusste Entwicklung „war ja die Riesenchance für das Kulturland Niederösterreich, etwas neu denken zu dürfen, etwas neu gestalten zu dürfen“, sagt Gessl.
Die NÖKU (Niederösterreichische Kulturwirtschaft) mit über 1.300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vereint unter ihrem Dach rund 40 künstlerische und wissenschaftliche Institutionen im Bundesland. Darunter sind Grafenegg, die Tonkünstler, die Kunstmeile Krems, die Festspiele Reichenau, die Schallaburg, das Festspielhaus St. Pölten oder das Stadttheater Wiener Neustadt
Der Manager
Seit ihrer Gründung vor 25 Jahren unter Landeshauptmann Erwin Pröll wird die NÖKU von Paul Gessl geleitet. Gessl, 1961 in Hollabrunn geboren, kam aus der Privatwirtschaft, der Absolvent der Montanuni in Leoben arbeitete in der Öl- und Metallwirtschaft. 2026 wird er 65 Jahre alt und zieht sich zurück
Der Hollabrunner, geboren 1961, nennt das Beispiel Grafenegg: Wäre dort ein Konzertsaal gebaut worden, „der noch so gut und schön gewesen wäre, wäre er immer am Goldenen Saal im Musikverein gemessen worden. Für uns war klar, dass wir etwas setzen müssen, das eine Ergänzung und keine Konkurrenz darstellt. Etwas, das in Wien nicht geboten wird und das die Leute im Sommer suchen.“ Daher entschied man sich für einen Open-Air-Konzertraum, der „in der Architektur, in der Funktionalität und der Akustik mit den Besten der Besten mithalten können musste“.
Die NÖKU ist inzwischen auf immense Größe angewachsen – sie vereint rund 40 Institutionen unter ihrem Dach, die zuletzt 1,1 Millionen Besuche pro Jahr hatten und 2025 einen Betriebsaufwand von 136 Millionen Euro budgetieren. 1.300 Menschen arbeiten in den NÖKU-Unternehmen.
Einerseits ein erstaunlicher Erfolg. Andererseits sind solche großen Tanker in Krisenzeiten exponiert: Auf ein derart großes Budget wird schneller ein Spar-Auge geworfen als auf dezentrale und damit kleinere Fördernehmer. Man ist da schon exponiert, oder? Gessl hält etwaigen Spargedanken das „unternehmerische Denken“ der NÖKU entgegen: „Wir sind stark privatwirtschaftlich organisiert. Wir kämpfen immens um Effizienz, um Synergien, um Automatisierung. Wir haben schon jetzt manche Prozesse eingeleitet, die auf den Inhalt Ihrer Frage ausgerichtet sind. Möglicherweise werden wir nicht umhinkommen, manches Bestehende zu hinterfragen.“ Und was? Mehr digitales Marketing in den NÖKU-Unternehmen, sagt Gessl. Und: „Doppelgleisigkeiten und Parallelstrukturen wegräumen.“ Da würde „wohl noch die eine oder andere gröbere Maßnahme auf uns zu kommen“, so Gessl, der offiziell noch keine Details nennen wollte.
Eine weitere Frage, die sich aus der Größe der NÖKU gibt, ist die der Macht: Wo zentral verwaltet wird, kann auch von etwaigen künftigen, weniger wohlwollend gesinnten Playern zentral stark eingegriffen werden. Ist das nicht eine offene Flanke, die man in eine sowohl finanziell als auch politisch absehbar turbulente Zukunft mitnimmt? Gessl verneint. „Das Prinzip der NÖKU-Gruppe ist getragen nicht von einer Person, sondern von einer Führungsstruktur. Ein künstlerischer Leiter hat klare, autonome Entscheidungsfreiheit. Egal, wie der Geschäftsführer der Institution heißt, egal wie jener der Holding heißt und wie der Betrieb heißt. Arbeitsteilung ist gleich Gewaltenteilung – und das ist immer die beste Voraussetzung gegen Machtmissbrauch, gegen Compliance-Missbräuche, gegen Intransparenz.“
Aber die künstlerischen Leitungen werden ja auch bestellt, sprich nach und nach durch die NÖKU-Leitung ausgetauscht – und diese Entscheidungen gelingen auch nicht immer, muss man mit Blick etwa auf die „Tangente“ anmerken.
„Es ist nicht immer gut gegangen, vollkommen richtig“, sagt Gessl. „Aber umgekehrt: Wer keine Entscheidungen trifft, wird nie Erfolg haben. Einer meiner wichtigsten Jobs ist es, wie Rudolf Buchbinder zum richtigen Zeitpunkt die richtige Taste zu treffen. Also zur richtigen Institution die richtige Person hinzusetzen. Erfolg ist, wenn die Summe der richtigen Entscheidungen größer ist als die Summe der falschen.“
Jetzt ist das Neu-Branding Niederösterreichs zum Kulturland auf interessante Weise weit vorangeschritten. Sind da die eingangs erwähnten Ausgangsvariablen – Stichwort: Konkurrenz zu Wien – nicht inzwischen obsolet, wenn nicht gar hinderlich? Wien und Niederösterreich sind ja, obwohl es da viele Emotionen gibt, eine gemeinsame Region mit einer gemeinsamen Bevölkerung. „Vollkommen richtig“, sagt Gessl. „Die Herangehensweise an Problemlösungen der Zukunft auch im Kulturbereich ist für mich das stärkere Miteinander. Eine Profilierungsstrategie, wie wir sie teilweise in den letzten 20 Jahren umgesetzt haben, ist kein Widerspruch dazu, laufend über die Möglichkeiten von Kooperationen, Koproduktionen und Synergien nachzudenken.“
Gessl verweist etwa auf die Bespielung des ehemaligen Essl-Museums durch die Albertina. Alle Bundesmuseen seien „grundsätzlich gut beraten, auch im Sinne ihrer kulturpolitischen Absicherung“, mit den Landesmuseen und den Ländern stärker gemeinsame Sache zu machen, sagt er. „In Wien haben die Bundesmuseen eine Aufgabe, die sich von selbst erledigt: Die Besucher kommen, der Wien-Tourismus blüht.“ Deshalb hätten die „großen Tanker“ unter den Bundesmuseen ein zum überwiegenden Teil internationales Publikum. „Sie werden gut beraten sein, da sie auch viel Steuergeld bekommen, ihre Legitimation dadurch abzusichern, sich in solche Kooperationen einzulassen“, sagt Gessl.
Aber ganz kommt man dem direkten Vergleich nicht aus – ein Theater ist ein Theater, ein Museum ein Museum, da steht man dann doch wieder im direkten Vergleich. Gessl verweist auf den kulturellen Versorgungsauftrag - und auf die Landestheaterstrategie. „Es gab zig Stadttheater, klassische Mehrspartenhäuser, mit all den finanziellen und künstlerischen Überforderungen, aber kein Landestheater.“ Dem habe man ein dezentrales Konzept entgegengesetzt - „nicht jedes Haus macht alles“. Es war ein „mutiger Schritt“, das Landestheater Niederösterreich auf Sprechtheater zu fokussieren, das führte zu „70 Entlassungen“, sagt Gessl. Baden wurde zum Ort des Musiktheaters, der jüngste Neuzugang, das Stadttheater Wiener Neustadt, hat „kein eigenes Ensemble, sondern wird aus den Ensembles bespielt, die wir im Profil haben.“
Hinterfragen
Denn das Steuergeld wird, siehe Budgetdefizit bei Bund und Ländern, absehbar eher nicht mehr werden. Gessl sieht deswegen eine Veränderung, einen „Change-Prozess“ auf die Kulturlandschaft zukommen. „Wir sind gut beraten, manches zu hinterfragen und manches, vielleicht auch vieles, neu zu denken“, sagt er.
Kulturinstitutionen seien gefragt, auch inhaltlich ihre „Monokultur“ zu verlassen, Genres aufzubrechen, miteinander Neues zu schaffen. Denn vor allem die großen Häuser haben hohe Personalkosten. „Die Kulturbetriebe werden an ihren Fixkosten ersticken“, sagt Gessl. Es stelle sich die Frage nach der Ensemblegröße in Relation zur Auslastung, und auch, wie man bestehende Ensembles besser auslasten könnte. „Das ist ein Prozess, der ist im Aufbruch“, sagt Gessl.
Im September 2026 wird Gessl die Leitung der NÖKU abgeben. Zu tun wird seine Nachfolge genug haben. „Mir war wichtig, dass es zeitgerecht ist. Ich will eine ordentliche Staffelübergabe vorbereiten.“
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