Opernstar Jonas Kaufmann: "All diese Stücke sind leider voll mit #MeToo"

Leitet bis 2030 die Tiroler Festspiele Erl: Startenor Jonas Kaufmann im Interview über seinen ersten Sommer als Intendant.
Die Tiroler Festspiele haben mit dem Engagement von Jonas Kaufmann als Intendant einen Coup gelandet. Nun geht der deutsche Startenor in seinen ersten Erl-Sommer als Chef. Mit dem KURIER sprach er über die finanziellen Herausforderungen und warum er die Erl-Besucher für neue Werke wie George Benjamins „Picture A Day Like This“ begeistern will.
KURIER: Es ist angesichts der klammen öffentlichen Kassen auf allen Ebenen wohl ein etwas komplizierter Moment, eine Intendanz zu übernehmen. Haben Sie sich zuletzt mal gedacht: Was habe ich mir da angetan?
Jonas Kaufmann: Eigentlich nicht. Wir sind viele Jahrzehnte sehr glücklich gewesen über die Kulturförderung. Österreich ist lange Zeit eine Insel der Glückseligen gewesen. Ich sage immer: Eine Gesellschaft ist auf drei Säulen gebaut, das sind die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Geschichte und die Kultur. Das Thema Sprache ist nicht ohne Schwierigkeiten. Aus der Geschichte kam Österreich, auch wenn man lange als das erste Opfer galt, auch nicht mit blütenreiner Weste raus. Also bleibt die Kultur. Wenn man die wegschneidet, steht alles nicht mehr gut da.
Also ist bei der Kultur sparen eine schlechte Idee?
Dieses Damoklesschwert hat uns immer schon bedroht. Dementsprechend war ich jetzt nicht überrascht, dass es passiert. Die große Frage ist, wie es passiert, wo gespart wird und was vielleicht ausgespart bleibt. Ich habe mich in Erl bemüht, finanziell nicht über die Stränge zu schlagen, trotz der vielen Neuerungen. Das ist nicht einfach. Die zeitgenössische Musik beispielsweise ist nicht günstig.
Umso mutiger ist es, mit einem ganz neuen Werk in den Sommer zu starten, das keiner kennt.
Dass George Benjamins „Picture A Day Like This“ kein Projekt ist, mit dem wir Geld verdienen, war klar. Wir sind kein dezidiert zeitgenössisches Festival, obwohl es viele Uraufführungen in Erl gegeben hat. Ich will keine Zöpfe abschneiden. Zeitgenössische Oper zu spielen ist eine Erweiterung, eine Ergänzung. Ich kann nicht erwarten, dass das sofort rennt, das muss sich über Jahre entwickeln.

Jonas Kaufmann leitet bis 2030 die Festspiele Erl.
Die konzertanten Verdi-Opern sind sicher bummvoll. Kommt man da nicht in Versuchung zu sagen, ich mach statt dem Zeitgenössischen einfach noch dazu einen Wagner, und gut ist’s?
Klar kann man sagen, man hofft, dass aus ganz Europa genug Publikum dafür kommt. Aber die Region, das Land, die Umgebung müssen auch davon profitieren, dass so eine renommierte Kulturinstitution da ist. Und da muss man etwas bieten, das sich die Menschen rauspicken können, das sie kennenlernen können. „Picture A Day Like This“ ist keine anstrengende Musik, nichts, wo man sagt, um Gottes Willen, da klirren einem die Ohren. Im Gegenteil, es ist Musik, die direkt berührt. Benjamin hat keine Angst davor, mit Musik Gefühle zu erzeugen. Und die Oper erzählt eine Parabel wie aus einem Märchenbuch.
Das war immer ein Erfolgsrezept von Erl: dass die Handlung getreu inszeniert wurde und man nicht enträtseln musste, ob der Regisseur schlecht geschlafen hat. In Erl war es handgestrickt vom Herrn Kuhn, da stand dann eine Leiter auf der Bühne, und die war die Kulisse.
Wir wollen anspruchsvolle, originelle Inszenierungen zeigen, die sich dennoch leicht lesen lassen. Wenn heute eine Geschichte erzählt wird, ist es oftmals die Geschichte, die sich der Regisseur ausgedacht hat, und nicht die, an die der Komponist gedacht hat, als er es geschrieben hat. In Erl bieten wir handwerklich gut gearbeitete, verständliche Stücke, vor allem bei den Klassikern. Das heißt nicht, dass alle in historischem Gewand daherkommen. Das alles Entscheidende ist: Die Emotion, die in der Musik ist, ist adäquat der der Protagonisten. Das hat mich über meine Karriere hinweg am meisten gestört: dass Regisseure im Optischen und Inhaltlichen oftmals gegen die Musik arbeiten.
Sie sind jetzt nach Asmik Grigorian und Elīna Garanča der dritte Opernstar, der mir innerhalb weniger Monate das gleiche Urteil vermittelt – dass die Regie ein Problem ist für die Oper, für die Sängerinnen, für das Publikum. Was läuft denn da falsch in der Branche?
Wie kann ein Intendant Aufmerksamkeit erregen? Durch einen ruhigen, regelmäßigen Betrieb mit den besten Musikerinnen und Musikern und den besten Sängerinnen und Sängern? Das ist schwierig – und kostet viel. Über polarisierende Regie geht das viel einfacher und günstiger. Da ist man in aller Munde. Ich bin aber der Meinung, dass dieser ganz groteske Wahnsinn schon wieder ein bisschen zurückgeht.

Jonas Kaufmann: "Manche haben früher ihre Machtposition verkannt."
Asmik Grigorian hat betont, dass die musikalische Qualität unter dem Regietheater leidet, weil Sängerinnen und Sänger zu früh in große Rollen gedrängt werden.
Das ist nicht ganz neu. Karajan war ein berühmtes Beispiel dafür: Er hat Sänger viel zu früh angeleitet, Partien zu singen – aber nur mit ihm. Aber es stimmt: Zu viele Engagements haben zuletzt auf Basis des Alters und des Aussehens stattgefunden, aber nicht auf Basis der Möglichkeiten der Stimmen. Natürlich gehen diese Stimmen dann auch vor die Hunde. Die Sängerinnen und Sänger wollen ja die großen Partien singen, die können nicht sagen, ich weiß, ich kann das noch nicht.
Sie sagen, das mit der Selbstzweck-Regie ist über dem Zenit. Was kommt jetzt, wieder Fell-Umhänge bei Wagner?
Hyperrealistisch muss es überhaupt nicht sein. Man besinnt sich vielleicht wieder auf schlaue Menschen. Hans Neuenfels, was war das für ein schlauer Kerl! Was für Sachen hat der den Leuten untergeschoben! Ich bin von manchen Ihrer Kollegen scharf angegangen worden, weil ich gesagt habe, dass ich jedes Jahr eine Regiearbeit einer Frau zeigen will. Es geht mir da nicht um die Quote. Sondern um eine andere, eine weibliche Sichtweise auf all diese Stücke, die ja leider voll sind mit #MeToo. Wir wissen das: Neun von zehn Opern gehen aus heutiger Sicht gar nicht! Männliche Regisseure lavieren dann herum oder hauen einfach drauf. Frauen nennen die Dinge beim Namen.
Mit #MeToo-Fragen hat Erl ja auch eine Geschichte. Haben Sie den Eindruck, dass sich die Branche gewandelt hat, dass die steilen Machtgefälle ein bisschen ausgeglichen wurden?
Das Bewusstsein hat sich geändert. Manche haben früher ihre Machtposition verkannt, die sahen das gar nicht so, dass sie Karrieren anschieben, aber auch vernichten konnten. Aber es ist mit Sicherheit so, dass es diese Fälle gegeben hat. Als ich Student war, hat man oft über die „Besetzungscouch“ gesprochen. Ich habe persönlich solche Fälle erlebt. Es hat da grausliche Dinge gegeben, dass Kollegen von mir die Probensituationen schamlos ausgenützt haben, um Frauen zu küssen oder unsittlich zu berühren. Dadurch ist vieles kaputtgemacht worden. Wir müssen aber auch aufpassen: Wir spielen auf der Bühne Theater und wollen einen gewissen Realismus erreichen. Das ist für den Regisseur komplizierter geworden. Abgesehen davon, dass es klare Regeln für das Miteinander gibt: Man muss sich im Zweifelsfall aussprechen, sagen, das will ich, das will ich nicht. Und daran muss man sich dann halten.
Mit einem Festkonzert startet der Opernsommer in Erl am 3. 7.: Das Orchester der Festspiele gibt unter Asher Fisch Hans Pfitzners Drei Vorspiele zu „Palestrina“, das Vorspiel zum ersten Aufzug von Richard Wagners „Parsifal“ und Claude Debussys „La mer“.
Die erste Premiere dann wird mit Spannung erwartet: Am 4. und 6. Juli gibt es in Erl die erst 2023 uraufgeführte Oper „Picture A Day Like This“ von George Benjamin (Musik) und Martin Crimp (Libretto). Corinna Niemeyer steht am Pult, gezeigt wird die Uraufführungs-Regie von Daniel Jeanneteau. „Benjamins neue Oper verdient noch viele Aufführungen“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung, von einem „fulminanten Opernerlebnis“ berichtete BR Klassik.
Es folgen eine Wagner-Gala (5. 7.) und der Doppelabend „Herzog Blaubarts Burg/La voix humaine“ (11., 13., 18. Juli): In Koproduktion mit dem Maggio Musicale Fiorentino zeigt man Bartók und Poulenc im Zusammenhang, es inszeniert Claus Guth, Martin Rajna steht am Pult. Weiters gibt drei Verdi-Opernhits konzertant, Soloabende u. a. von Camilla Nylund und den gefeierten „Holzfällen“-Abend von Franui und Nicholas Ofczarek.
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