Wie Choreograf Boris Charmatz die Stadt zum Tanzen bringen will

Von Silvia Kargl
Boris Charmatz zählt seit vielen Jahren zu den führenden Choreografen der Gegenwart. Er wurde 1973 in Chambéry/Frankreich als Sohn eines Lehrerehepaares geboren. Sein Vater überlebte als Kind den Holocaust bei einem Pastorenehepaar in der Schweiz.
Unter anderem an der Ballettschule der Pariser Oper ausgebildet, choreografierte Boris Charmatz 1993 mit dem Duo „À bras-le-corps“ ein Stück, das er mit Dimitri Chamblas bis heute tanzt: „Wir haben uns damals gewünscht, dass wir dieses Duo auch noch tanzen, wenn wir älter werden“. Er leitete das Centre chorégraphique national de Rennes et de Bretagne, wo er das lebendige „Musée de la danse“ initiierte. Eine enge Zusammenarbeit verbindet ihn mit dem Festival von Avignon.
Charmatz’ Stücke sind Teil des Repertoires des Balletts der Pariser Oper und wurden auch im New Yorker MoMA und in der Tate Modern in London gezeigt.
2022 übernahm er die Leitung des von der bahnbrechenden Choreografin Pina Bausch (1940–2009) begründeten und zu Weltruhm geführten Tanztheaters Wuppertal. Parallel begann eine Kooperation mit der in der Région Hauts-de-France beheimateten Tanzinitiative „terrain“. Im Frühjahr 2025 gab Charmatz überraschend bekannt, die Leitung trotz internationaler Erfolge und Auszeichnungen mit Saisonende vorzeitig niederzulegen.
Das Gastspiel bei ImPulsTanz bringt mit den Aufführungen von Pina Bauschs Klassiker „Nelken“ von 17. bis 20. Juli im Burgtheater seinen Abschied vom Tanztheater Wuppertal. Über die Gründe haben beide Seiten Verschwiegenheit vereinbart. Vertreter der Stadt Wuppertal fanden ausnahmslos lobende Worte für Charmatz, der mit seinem interimistischen Nachfolger Daniel Siekhaus im besten Einvernehmen ist. Die Vermutung liegt nahe, dass es Meinungsverschiedenheiten mit der von Bauschs Sohn Salomon geleiteten Bausch Foundation gab, die die Rechte an den Stücken von Pina Bausch verwaltet.

KURIER: Sie sprechen sehr gut Deutsch. Haben Sie die Sprache für Ihre Tätigkeit beim Tanztheater Wuppertal gelernt?
Boris Charmatz: Nein, ich sprach als Jugendlicher viel besser Deutsch als heute! Meine Mutter war Deutschlehrerin, und zuhause haben wir oft Deutsch gesprochen, zum Beispiel auch Thomas Bernhard gelesen.
Worin sehen Sie die Bedeutung des Tanzes 2025?
Was kann man heute, wenn Demokratien in Gefahr sind, wenn es Kriege und Traumata gibt, bewirken? Das Suchen ist schon ein Teil der Antwort. Für das Tanztheater Wuppertal habe ich versucht, weiter an einer Brücke zwischen Deutschland und Frankreich zu bauen. Pina Bausch war in Frankreich immer sehr beliebt und geschätzt. Nach ihrem Tod 2009 sind ihre Stücke zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für das Tanztheater Wuppertal. Also müssen wir nicht nur nach vorn schauen, sondern auch zurück. Als Franzose habe ich gleich an die gemeinsame Geschichte unserer Regionen gedacht, zum Beispiel in der durch Kohle und Stahl geprägten Wirtschaft. Eine „Kunstbrücke“ mit Tanz entstand in beiden Ländern im öffentlichen Raum.
Bringen Sie den Tanz aus den Theatergebäuden hinaus?
Ja, ich möchte die Stadt zum Tanzen bringen. 2023 haben wir in Wuppertal mit „CERCLES“ begonnen, mit 200 Mitwirkenden, darunter Tänzerinnen und Tänzern des Tanztheaters Wuppertal, aber auch Laien, die gemeinsam in der Stadt tanzten. Ich möchte auch weiterhin neue ästhetische Wege für Tänzer und Publikum öffnen. Diese Zusammentreffen können in Städten, aber auch in ländlichen Gebieten stattfinden.
Schon in Ihren frühen Stücken fällt die Abkehr vom Tanz auf der Guckkastenbühne auf. Ist das nicht ein großer Unterschied zu Pina Bausch?
Zuerst interessieren mich Körper und Seele an sich. Für meine Stücke in geschlossenen Räumen möchte ich eine große Nähe zum Publikum haben. Sie sind oft roh, nackt und durchlässig, brauchen diese Nähe. Ich mag aber auch langfristige Entwicklungen in Stücken, insofern fand ich zu den Stücken Pina Bauschs leicht einen Zugang.
Wie haben Sie sich Bauschs Tanztheaterstücken genähert?
Ich finde es wichtig, dass ihre Stücke von erfahrenen Tänzerinnen und Tänzern einstudiert werden, die teilweise noch mit ihr zusammengearbeitet haben. Voriges Jahr habe ich „Café Müller“, das zur Eröffnung von ImPulsTanz im Burgtheater zu sehen war, als siebenstündige „Endlosschleife“ in Avignon aufführen lassen, mit unterschiedlichen Besetzungen. Darunter waren langjährige Mitglieder des Tanztheaters Wuppertal, aber auch neue Tänzer. Letzten Endes geht es mir jedoch nicht nur um Besetzungsfragen, sondern darüber hinaus um einen größeren Perspektivwechsel.
Wie geht es für Sie weiter?
Die „terrain“–Struktur läuft weiter, sie wird weiterhin unterstützt. Nach meinem ersten Solo für mich, das erst vor drei Jahren entstand, denke ich schon länger über ein weiteres Solo nach. Ich nehme mir immer viel Zeit für eine neue Kreation und hoffe, dass neue Stücke weiterhin für lange Zeit in meinem Repertoire bleiben. Ich sehe mich an erster Stelle als Tänzer, und mit dem Tanzen werde ich nicht aufhören!
Kommentare