Festspielhaus St. Pölten: "Alle sind überfordert“ und brauchen Mut und Klebstoff

Festspielhaus St. Pölten: "Alle sind überfordert“ und brauchen Mut und Klebstoff
2025/2026 steht das Haus im Zeichen des „Gemeinsinns“. Die künstlerische Leiterin Bettina Masuch über Mut, Gendern und die veränderte Rolle von Kunst in der Gesellschaft.

"Wie können wir als Gemeinschaft leben? Was sind die Herausforderungen, denen wir uns im Moment stellen? Wie spricht man gemeinsam? Und mit welcher Stimme?“

Diese Fragen scheinen akut wie nie. Und sie sind „im Theater und im Tanz immer schon ein Thema gewesen“, sagt Bettina Masuch. Die Chefin des Festspielhauses St. Pölten stellt daher die kommende Saison (siehe Info unten) unter das Thema „Gemeinsinn“. Und sucht im Programm Antworten auf eine der drängendsten Fragen überhaupt: „Wie kommen wir raus aus unseren Blasen, zumindest aus lauter kleinen Blasen in eine große?“

Im Fokus

Schwerpunkte sind dem spanischen Choreografen Marcos Morau und dem niederländischen Kreativduo Imre & Marne van Opstal gewidmet, beide sind mehrfach zu Gast. Morau bestreitet mit 30 Tänzerinnen und Tänzern des Ballet Nacional de España die Saisoneröffnung am 26. und 27. 9. im Zeichen des Flamenco. Die Geschwister Van Opstal bringen u. a. „Atlas Song“ zu Musik von Anna von Hausswolf zur Aufführung

Erinnerung

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„Menschen Mut machen“

Wobei ja gerade jetzt das Konzept der Kultur als verbindende Kraft stark unter Druck scheint, oder? Ist sie nicht, schaut man auf den Zustand der Welt, als verbindendes Element gescheitert?

„Eine wichtige Frage, die ich mir auch stelle“, sagt Masuch. „Natürlich fragt man sich das angesichts all dessen, was in der Welt passiert. Meine Antwort ist: Das, was politisch falsch läuft, kann die Kultur nicht richten. Was wir aber schaffen können, ist: Menschen Mut zu machen. Menschen manchmal einen anderen Blick auf das Gegebene zu zeigen. Manche Vorurteile, die wir haben, infrage zu stellen.“

Was Kultur ebenfalls schaffe, ist „einen anderen Blickwinkel zuzulassen, andere Rollenvorbilder überhaupt erst zu kreieren. Das ist ein langfristiger Prozess. Meine Hoffnung ist, dass wir darüber langfristig zu anderen Schlüssen kommen, die irgendwann auch politische Auswirkungen haben. Aber den Frieden in der Ukraine werden wir mit dem, was wir hier tun, nicht herstellen können.“

In den USA sind Firmen wie Disney, die noch jüngst auf Diversität setzten, in den neuen Umständen schlagartig umgefallen: Sie fürchten, einen Teil des Publikums mit der Zurschaustellung von Offenheit zu vergrämen.

Hat man da in Europa, in Österreich einen längeren Atem? „Es gibt auf komplizierte Zeiten keine einfachen Antworten“, sagt Masuch. „Einerseits muss unser Bestreben sein, möglichst viele Menschen zu erreichen, gerade natürlich auch, wenn man so ein großes Haus vertritt, wie wir das nun tun. Und dann darf jeder und jede auch unterschiedliche Ansichten vertreten. Gleichzeitig glaube ich schon, dass wir für bestimmte Werte stehen. Da gibt es rote Linien, hinter die man nicht mehr zurückgehen kann.“

Zum Beispiel? „Ich verstehe, dass es manchen Menschen zu kompliziert ist, Genderendungen zu sprechen. Ich finde, jeder darf das so sagen, wie er oder sie das möchte. Aber mir ist es wichtig, dass Frauen im Sprechen und gerade auch im professionellen Sprechen vorkommen. Deswegen möchte ich die Kommunikation nicht wieder in eine Zeit zurückdrehen, wo das den Männern vorbehalten war. Ich sehe es durchaus als meine Aufgabe an, dafür zu werben.“ Das sieht – siehe „Gendererlass“ der Landesregierung – in Niederösterreich mancher anders, oder? „Ich glaube, das A und O, so anstrengend es auch ist, ist die Kommunikation. Wir müssen miteinander reden – sonst bleibt jeder in seiner Ecke und in seiner Wortwahl.“

„Die Zeiten sind vorbei“

Innerhalb der Kulturszene jedenfalls gibt es heftige Debatten über Gaza und Israel. Welche Erfahrungen hat da das Festspielhaus? Masuch erzählt, dass sie am 7. Oktober 2023 – dem Tag des Hamas-Terrors – nach Israel fliegen wollte, um sich eine Produktion anzuschauen, die Reise aber noch rechtzeitig abbrechen konnte. „Unsere Strategie ist auch da, Unterschiedlichkeit anzuerkennen. Und immer wieder danach zu suchen, was uns miteinander verbindet. Aber Sie haben schon recht: Es ist sehr viel anstrengender geworden. Früher konnte man davon ausgehen, dass man, wenn man sich an Orten der Kunst begegnet, automatisch einer Meinung ist. Die Zeiten sind vorbei.“

Über all dies habe sich auch das (Selbst-)Verständnis von Kultur verändert, sagt Masuch. „Kunst und Kultur haben sich immer so verstanden, dass sie ,den Finger in die Wunde‘ legen. Das war in einer bestimmten Zeit, in der die Gesellschaft sehr satt und selbstzufrieden war, wichtig. Mittlerweile aber ist die Gesellschaft an einem völlig anderen Punkt. Alle haben Angst, alle sind überfordert. Ich denke, dass das unsere Rolle verändert, dass es im Moment viel stärker darum geht, Mut zu machen, Kraft zu geben, Klebstoff zu sein. Man darf sich da nicht auseinanderdividieren lassen.“ Das Festspielhaus wolle „die Menschen willkommen heißen, mit all dem, was uns im Nacken sitzt, und sie erst mal durchatmen lassen“.

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