„Pop von der KI wird noch ein Riesenproblem werden“

Der Musikwissenschafter und Comedian Markus Henrik alias Dr. Pop. Am Samstag ist sein Programm "Hitverdächtig" auf 3sat zu sehen.
Er ordiniert in Musik-TV-Shows, auf der Bühne und auf Instagram: Dr. Pop – das ist der Musikwissenschafter Markus Henrik – erklärt, warum einem manche Songs besonders bekannt vorkommen, in welchen Hits man eine japanische Shakuhachi-Flöte hört, wie Musikcharts berechnet werden und vieles mehr. Am Samstag zeigt 3sat sein Comedy-Programm „Hitverdächtig“ (23 Uhr), im April erscheint – nach „Dr. Pops musikalische Sprechstunde“ – ein neues Buch.
KURIER: Was macht einen Song zum Ohrwurm und wie wird man ihn wieder los?
Dr. Pop: Das ist ganz gut erforscht. Zum Beispiel darf der Tonumfang nicht unglaublich groß sein, damit man nicht Whitney Houston oder Caruso sein muss, um mitsingen zu können. Und es braucht Intervalle, die sich wiederholen, damit sie sich „einhaken„ können. Im Englischen heißt das ja sogar „hookline“. Wie man den Ohrwurm wieder los wird, da gibt es auch viele Tipps, manche sind eher lustig oder esoterisch, wie der, dass man Zimt essen soll. Denn in dem soll ein Stoff stecken, der den Ohrwurm ablenkt. Das ist nicht so glaubwürdig. Aber was tatsächlich helfen kann, ist Kaugummi kauen: Selbst wenn man einen Ohrwurm nicht laut mitsingt, schwingen trotzdem Muskelpartien mit. Das Kauen kann diese Subvokalisation unterdrücken, dass wir nicht mehr „mitschwingen“. Aber Ohrwürmer haben auch etwas Positives: Die treten nämlich hauptsächlich ein, wenn unser Gehirn im Stand-by-Modus ist, beim Bügeln oder Radfahren. In Zeiten, in denen wir so zugeballert werden durch Social Media, Werbung et cetera, ist ja unser Gehirn ständig abgelenkt – wenn wir einen Ohrwurm haben, können wir das eigentlich schätzen, denn das bedeutet: Endlich bin ich mal so ein bisschen entspannt. Die haben nur einen schlechten Ruf, die armen Tiere.
In der Zeit, in der Sie sich nun mit Popmusik beschäftigen, wie hat sie sich verändert?
Ich bin ein 82er-Jahrgang, habe vor 20 Jahren angefangen, das zu studieren. Es gab mal eine Untersuchung, dass Songs ein bisschen trauriger geworden sind, dass mehr Moll drin ist. Das habe ich auch wahrgenommen. Also in den 80er- und 90er-Jahren ist man mit fröhlicherer Musik großgeworden. Es gibt jetzt mehr Trübsal. Aber der diesjährige Sommerhit „Golden“ von einer K-Pop-Band, der ist freundlicher. Der ist auch in Dur gehalten und hat etwas Aktivierendes, der zieht nicht runter. Es gibt auch die Entwicklung, dass die Songs kürzer werden. Das liegt an den Streamingdiensten. Je öfter etwas angeklickt wird, desto mehr Geld verdient man, das ist natürlich auch im Sinne der Künstler und der Labels.
Das hat auch die Struktur von Songs verändert – Intros gibt es nicht mehr…
Intros sind tot. Nach 30 Sekunden gilt ein Song als gestreamt, zumindest bei Spotify. Man muss sofort die Aufmerksamkeit erringen, deswegen kommt oft der Refrain schon nach 29 Sekunden. Auch B-Teile sind ausgestorben. Da hat Sting einmal ein interessantes Interview gegeben. Die Bridge ist unglaublich wichtig, weil sie eine Auseinandersetzung ist. Der Song ist eine Problematisierung von etwas, und der B-Teil, wo sich in den Akkorden etwas verändert, wo ein Bruch ist, – dass das auch wegfällt, ist eine bedauernswerte Trivialisierung. Ich bin jetzt keiner, der sagt: Früher war alles besser – aber in der Musik schon (lacht). Es gibt aber auch gute Tendenzen: Künstlerinnen und Künstler, die dem Album wieder eine große Wertigkeit zuordnen, Taylor Swift hat das für eine junge Zielgruppe geschafft, das Album wieder als Kulturgut auf einen Sockel zu stellen. Dass ein Album von Anfang bis Ende eine Idee verfolgt, das war vor 20 Jahren unlebendiger als heute. in den letzten Jahren selten.
In einem Clip analysieren Sie Olivia Newton-Johns „Physical“ als sehr häufig gesampeltes Musikstück. Gibt es noch andere Trends, auf die Musiker jetzt zurückgreifen?
Es gibt gewisse interessante Rhythmen, die in den 80er-Jahren angesagt waren, die jetzt auch wieder ein Revival feiern. Bei „Azizam“ von Ed Sheeran ist mir eine gewisse Rhythmik aufgefallen, die ein bisschen in die Richtung von Michael Jacksons „Leave me Alone“ geht. Das ist nicht nur mir aufgefallen, auf YouTube gibt es einige Mashups von den zwei Songs. Die Grundidee von „Physical“ ist sehr verbreitet, da gibt es offiziell genehmigte Versionen, aber auch einige, wo man sich denkt: Wie sind die damit durchgekommen? Es ist ja auch nicht dumm. Man holt die doppelte Zielgruppe ab. Die Jungen denken sich, ah cool, und die Älteren denken sich, ah, mach ich lauter, das klingt wie meine Jugend. Neu ist das auch nicht: Take That hat das in den 90ern mit den Bee Gees gemacht und mit Barry Manilow. Bei Elvis-Presley-Songs aus den 50ern waren Liszt-Melodien drin. Das sind dann teilweise Coverversionen oder sogenannte Interpolationen: Da wird etwas aufgegriffen und neu verwurstet.
Aber heute ist es schon häufiger als früher, oder?
Ja. Es ist aber auch so vieles verfügbar. Früher war es ja auch aufwendiger, an Schallplatten zu kommen. Jetzt ist alles auf Spotify. Es gibt auch Studien, dass nie so viel Musik gehört wurde wie jetzt. Und dass pro Tag mehr Songs rauskommen als im ganzen Jahr 1989 zusammen.
Früher hat eine Person mit einer Gitarre oder einem Klavier einen Song geschrieben. Heute sind es oft 10 bis 20 Songwriter. Wie geht das überhaupt praktisch?
Es gibt so Camps, verlängerte Wochenenden, wo Songwriter aus aller Welt zusammenkommen. Es findet aber auch viel online statt. Vor zehn Jahren flog man nach Stockholm, wurde in teuren Hotels untergebracht, in riesigen Besprechungsräume wurde dann an Songs gearbeitet. Da gab es einen sogenannten Topliner, der hat sich um die Gesangsmelodie gekümmert, ein anderer hat den Bass programmiert. So ist zum Beispiel „Toxic“ von Britney Spears zum Beispiel entstanden, das ist ja ein toller Song. Das Negative: Es ist eine gnadenlose Optimierung von Songs, der Song soll perfekt sein, ohne jedes Fehlerchen.
In einem Ihrer Beiträge filtern Sie die Chorstimme von Rick Astley aus Elton Johns „Can you feel the love tonight“ heraus. Solche Überraschungen gibt es heute wohl eher nicht mehr, macht das alles die Maschine?
Es gibt seit 1998 Autotune, auf Deutsch automatische Tonhöhenkorrektur, die ist hilfreich für Sänger, deren Stärke nicht der Gesang ist. Berühmt wurde das als Verfremdungseffekt bei „Believe“ von Cher. Das kann schiefe Töne ausbessern, ist in vielen Songs heute drin. Aber es gibt einen Spruch in der Tontechnik, ich formulier ihn mal neutraler: Wenn Mist reinkommt, kommt auch Mist raus. Klar kann man mit Computer viel verändern, aber was die noch immer nicht wirklich können, ist, Stimmen so hinzukriegen, dass sie uns wirklich berühren, was in uns auslösen. Ich hoffe, dass das noch lange so bleibt.
Kann man von Künstlicher Intelligenz generierte Musik erkennen?
Man hört in vielen Songs noch gewisse digitale Fragmente, irgendwas klingt unnatürlich. Die werden aber immer besser. Ich bin sehr für eine Kennzeichnungspflicht. Bei Spotify gibt es zumindest keine. Deezer hat kürzlich eine Meldung rausgeschickt, dass jeder fünfte Song, der hochgeladen wird, KI-generiert wird. Das wird noch ein Riesenproblem.
Ist das die Zukunft?
Diese Computerentwicklungen sind nicht neu, schon in den 50ern hat der Computer Melodien ausgewürfelt. In den 80ern konnte man Synthesizer mit dem Computer verbessern, und man konnte dem Computer schon sagen: Mach es menschlich. Je künstlicher die Zeiten werden, desto mehr werden sich die Menschen danach sehnen, das Echte, die handgemachte Musik zu hören. Es ist kein Zufall, dass die Leute gerade so viel zu Konzerten rennen und horrende Preise zahlen. Ich glaube, das ist schon die Gegenbewegung zum KI-Schrott.
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