Man nimmt gerne die haarsträubendsten Geschichten für bare Münze – und sieht auch über völlig unlogische Entwicklungen hinweg. Wenn das, was im Theater geboten wird, gut gemacht ist. In den Kammerspielen der Josefstadt aber wird man bei „Die Ziege oder Wer ist Sylvia?“ – die Premiere war am Samstag – immer öfter stutzig. Da passt zu vieles nicht. Und nicht mehr in die Zeit.
Im Gegensatz zum Original ist der erfolgreiche US-Architekt Martin um zehn Jahre älter, also 60, und hat die Midlife-Krise schon hinter sich. Joseph Lorenz, bloßfüßig gewandet wie ein Zen-Meister, ruht denn auch recht zufrieden in sich. Dass der Reporter Ross sein Jahrgangskollege gewesen sein soll, fällt zu glauben schwer: Michael Dangl, sehr geschäftig, wirkt um mindestens eine Generation jünger. Er darf in der amorphen Wohnzimmerhöhle nach Bauart von Zaha Hadid, die den Luxus der Reduktion ausstrahlt (von Silvia Merlo und Ulf Stengl), ein Interview mit dem Jubilar führen. Wohl aus Angst vor Dieben trägt er sein Retro-Waffenrad herein. Wie er das Stativ für die GoPro transportiert hat, bleibt ungeklärt.
Das Interview misslingt zum Gaudium des Publikums. Denn Martin ist nicht nur ein Besserwisser, sondern auch zerstreut. Der Grund dafür: Der bisher treue Ehemann hat sich in eine gewisse Sylvia verliebt. Obwohl die liberale Familie dem Neuen aufgeschlossen ist – Ehefrau Stevie trägt eine Apple-Watch und kann mit der Fernbedienung die Farbe des Lichts bestimmen – greift Martin nicht zum Handy, um dem Freund die Geliebte zu zeigen: Er kramt ein Foto hervor. Das Stück stammt eben aus 2002.
Und was macht der beste Freund? Er schreibt Stevie mit der Hand einen Brief, der bereits am nächsten Tag zugestellt wird. Sandra Cervik, das Gesicht von einem Mireille-Mathieu-Pony umrahmt, kriegt nun einen Auszucker, der sich gewaschen hat. Denn mit allem hat ihre Stevie gerechnet – aber nicht damit, dass Martin eine Ziege lieben könnte. Und der homosexuelle Sohn (Julian Valerio Rehrl) findet es ganz arg, dass der „perverse“ Vater ein „Ziegenficker“ geworden sei.
Gott des Gemetzels
Von da an führt der Gott des Gemetzels die Regie: Cervik zertrümmert alles Bewegliche, darunter Porzellan und Stammeskunst. Ja, das ist schon recht amüsant. Doch dann taucht wieder Ross auf. Dieses Mal muss er sonderbarerweise nicht die ultramoderne Video-Gegensprechanlage überwinden: Er nimmt in der Inszenierung von Elmar Goerden den Umweg über den Saal. Soll doch dem Publikum bezüglich Scheinmoral und Vorurteile der Spiegel vorgehalten werden.
Das Tragische an diesen „Anmerkungen zu einer Bestimmung des Tragischen“ ist aber gar nicht die bittere Rache der Ehefrau: Bis zum Schluss wird nicht klar, ob Martin überhaupt etwas Sexuelles mit der Ziege hatte. Aber man nimmt eben gerne alles für bare Münze. Das Jubeln der Freunde des Hauses war dieses Mal doch stark übertrieben.
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