"Die Nacht kurz vor den Wäldern": Paranoia zum Mitmachen

Ein Mann mit langer Jacke steht an einem Bahnsteig neben einer einfahrenden U-Bahn.
Verfolgen und verfolgt werden: Das Stück "Die Nacht kurz vor den Wäldern" führt sein Publikum vom Kasino aus durch die Wiener Innenstadt.

Ein Pflaster über dem linken Auge, ein abklingendes Veilchen darunter. Der Mann hat schon einiges erlebt an diesem Tag. Bevor er sich auf die Suche nach einem Zimmer für die Nacht begibt. Und bevor er einen "Macker" angesprochen hat, der ihn durch die Stadt begleitet. Dieser Macker ist in "Die Nacht kurz vor den Wäldern" das Publikum. Ein Grüppchen von etwa 20 Personen, erkennbar an grün leuchtenden Kopfhörern, das Schauspieler Michael Wächter auf den Fersen bleibt. 

In der Inszenierung von Robin Ormond wird der Monolog von Bernard-Marie Koltès nicht auf einer Bühne rezitiert, sondern im Stadtraum. Man geht mit dem Mann (Michael Wächter) also aus dem Kasino raus, über den Ring, in die Parkgarage, zum Beethovendenkmal, fährt in der U-Bahn, streunert am Schwedenplatz herum, schaut ihm beim Bratwurstessen am Würstlstand zu, geht mit ihm ein Bier kaufen im Souvenirladen, landet schließlich sogar in der Jesuitenkirche. 

Auf der ganzen etwa eineinhalbstündigen Wanderung versucht der namenlose Mann dem "Macker" seine "Idee" zu erklären. Er sieht sich im Widerstand zu einem herrschenden Syndikat "internationalen Ausmaßes", Technokraten, die "uns das Leben aufzwingen, das wir führen." Die Performance bezieht ihren Reiz daraus, dass man einmal etwas tut, was man sich wohl nie trauen würde: einem handelsüblichen, vor sich hin redenden "Straßenspinner" vertrauen. Und weil man das tut – Wächters traurig-alarmierte Augen sind einfach sehr überzeugend –, dreht sich die übliche Wahrnehmung auch um 180 Grad. Und anders als sonst, wenn man jemandem erst glaubt, und dann immer mehr Zweifel aufkommen, fallen einem nun immer mehr Parallelen zwischen der vermeintlichen Paranoia und dem ganz normalen Leben 2025 auf. 

Wenn schließlich im dunklen Stadtpark die grünleuchtenden Kopfhörer wie ein koordiniertes Drohnengeschwader hinter dem Mann her sind, bekommt der Verfolgungswahn noch ein eindrückliches Bild.  Und man fragt sich, wie man jemals dieses Stück nicht auf diese Weise inszenieren hat können. 

Kommentare