Diagonale: "Let us enjoy" - Filme gegen die neue Normalität

Das Filmfestival Diagonale 25 wurde Donnerstagabend in der Helmut List-Halle Graz mit der Österreichpremiere von Florian Pochlatkos "How to Be Normal and the Oddness of the Other World" eröffnet. Den Großen Diagonale Schauspielpreis erhielt die auch an dem Abend gewohnt quirlige Inge Maux. Das Intendanzduo Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh widmete sich politisch bedingten Abnormalitäten: "Die neue Norm: Normalität aus dem Takt" - und pries zugleich filmische Leuchtkraft.
Ging es 2024 u. a. um den oft unselig gebrauchten Begriff Leitkultur, so dreht es sich heuer um Unseligkeiten, an die man sich wegen ihrer Häufung zu gewöhnen drohe. "Wir fragen uns alle immer öfter, wie es so weit kommen konnte. Jeder Tag eine neue Ungeheuerlichkeit. Institutionelle Funktionsweisen werden missachtet, gesellschaftliche Gräben vergrößert, es wird menschenverachtend und in bewusster Verdrehung der Tatsachen gehandelt", so Slanar und Kamalzadeh. Mit "The Oddness" - die Merkwürdigkeit oder Seltsamkeit der "anderen Welt", bezogen sie sich auf Pochlatkos "fantastischen" Eröffnungsfilm. "Dessen 'Oddness' besteht für uns darin, dass wieder Konzepten und Ideen das Wort geredet wird, die wir seit Jahrzehnten schon gänzlich überholt betrachtet und ad acta gelegt haben", so das Duo.

Schiefe Politik als "großartiges Fernsehen"?
"The new abnormal" ist die neue Norm: "eine Normalität aus dem Takt", befanden die Intendanten. "Weltpolitik als Sitcom-Bühne, mit einem Präsidenten, der einen anderen, dessen Land von einem skrupellosen dritten Präsidenten überfallen wurde, vor laufenden Kameras paternalistisch zurechtweist - und das als großartiges Fernsehen preist? Really?", wunderte sich die Festivalleitung. Normal bedeute ursprünglich "nach der Regel" oder "nach dem Winkelmaß gemacht". Doch wenn das Ganze schief hänge, müsse man sich dem dann unterordnen? In "How to Be Normal and the Oddness of the Other World" versuche sich Pia, die neurodiverse Hauptfigur, der Norm anzupassen. Aber immer wieder nehme sie Dinge wahr, die überhaupt nicht im Lot erscheinen. Es seien die anderen, die feststecken, kein Mittel haben, um aus ihrem entfremdeten Leben auszubrechen.
Unter den Filmen der Diagonale 25 seien erfreulicherweise viele Debüts wie jenes von Pochlatko, etliche manchmal explizit, manchmal subkutan gegen diese neue Normalität ausgerichtet. Sie "entlarven" die Bilder eines Landes, in dem sie das vermeintlich Eindeutige wieder widersprüchlich erscheinen ließen, wie etwa Lisa Polsters Doku "Bürglkopf", ein euphemistisch "Rückkehrzentrum" benanntes Abschiebelager hoch oben am Berg. Oder es würden bürokratische Schikanen auf dem Weg zur österreichischen Staatsbürgerschaft und damit verbundene Identitätsirrwege beleuchtet, wie von Olga Kosanović in "Noch lange keine Lipizzaner". Da sei ein Land zu sehen, das auch ohne "Volkskanzler" fragwürdige Grenzziehungen vornimmt.
Kino als Kraft des Konterns
Aber: "Wir sind davon überzeugt, dass Film, dass das Kino die Kraft hat, auf den chronisch gewordenen Zustand der Farce mit einem Schritt der Kenntlichmachung zu kontern, indem es Bilder anders arrangiert, Verhältnisse hinterfragt und nicht einfach reproduziert. Kino ist auch Bekenntnis zur Lücke und zum Dissens, zum Riss im Kontinuum", ließen die Intendanten nach einem pessimistischen Befund Zuversicht aufblitzen. Das Licht, das die Farce kenntlich mache, das Licht der Satire - man habe ja im diesjährigen historischen Programm auch "Österreich - Eine Satire". Der heimische Humor sei ja eher dafür bekannt, dass er nichts wirklich ernst nehme und die Welt durch den Filter der Enttäuschung, ja Verzweiflung betrachte.
Apropos Volk: "Die eigentliche Volkskultur, unsere Volkskultur, könnte, ja sollte man sagen, spricht durch diese Filme hindurch: Mit Volkskultur meinen wir nicht jene, von der zuletzt wieder häufiger die Rede war - eine Volkskultur, die nur die Geisel einer politischen Strategie ist", so die Intendanten. "Die Volkskultur, die wir meinen, sehr verehrtes Publikum, gehört uns allen" - an dieser Stelle gab es heftigen Applaus. "Sie ist lebendig, sie atmet, sie strampelt wild und unvorhersehbar - ein chaotisches, schöpferisches Zusammenspiel aus Tradition, Geschichte, Gegenwart und Reflexion", grenzten die beiden Festivalleiter verengte Sichtweisen aus.
Kulturpolitik soll ermöglichen und durchbrechen
"Wir wünschen uns eine Kulturpolitik, die keine fragwürdigen Unterscheidungen einführt, sondern die eine Kunst und Kulturlandschaft ermöglicht, die das Offene sucht; eine, die das durchbricht, was uns festhält und uns in Echokammern und alte Denkmuster zwängt", so die Intendanten. Die Aufgabe eines Filmfestivals könne und müsse es sein, Arbeiten, die dieser Idee verpflichtet seien, die das Unmögliche, das Unerhörte und das Unvorstellbare suchten, auf die Leinwand zu bringen. "In den nächsten fünf Tagen gibt es einige Gelegenheiten dazu. Lassen Sie sich unterhalten, verwirren, betören und nachdenklich stimmen". Danach sorgte eine Einblendung der Initiative Kulturland-retten.at für Akklamationen des Publikums.

Die - ausgesprochen zärtliche - Laudation auf die Große Diagonale Schauspielpreisträgerin Inge Maux hielten Schauspielkollegin Maria Köstlinger und Regisseur Michael Sturminger. Köstlinger sagte über die "verdiente Kollegin", man "lächelt breit und hüpft vor Freude im Kreis. Man ist sich in der Sekunde des Beschlusses absolut sicher. Wieso freu' ich mich so deppert drüber, dass sie den Preis bekommt?" Maux sei ein spektraler Freudegenerator, eine Frohsinnsmaschine mit ein bissl Haut drum herum - und bei der Arbeit völlig frei von Angst." Inge Maux springe ohne Netz und Sicherung in ihre Rolle, in der Unschuld des spielenden Kindes, wie sie selbst sage.

Regisseur Florian Pochlatko, Schauspiel-Preisträgerin Inge Maux, Vizekanzler Andreas Babler und Festival-Intendantenduo Dominik Kamalzadeh und Claudia Slanar
Sturminger erinnerte u. a. daran, Maux sei ganz jung mit dem Virus des Schauspiels in Berührung gekommen - und sie sei auf die Bühne gekommen, um zu bleiben. "Sie hat Angst vor nichts und niemandem, nicht einmal vor Ulrich Seidl oder Frank Castorf."
"Oh Gott, wie soll man da noch etwas sagen, das haut mich alles um. Was mir die Jury da angetan hat, es hätte mich ja der Schlag treffen können", freute sich Maux. Sie sei so glücklich, dass sie ein Mitglied der österreichischen Filmbranche sein dürfe. "Wir teilen alle die Leidenschaft für den Film, wir sind so ein tolles Land der Filmschaffenden", lobte sie die Branche. Ja, man müsse oft lange auf Förderungen warten, "aber bitte, gebt eure Träume nicht auf." Dann sang Maux ein Loblied auf diejenigen, ohne die sie nicht hierstehen würde, "meine Casterinnen". Sie hätten ihr die Rollen in "Murer" geschenkt, und jene mit der Liebe zu Karl Merkatz. Und als Hommage an den Regisseur von "Paradies: Liebe" und "Rimini": "Ulrich, I kiss your heart". Ohne Ulrich Seidl stünde sie nicht hier. Und abschließend: "Ich wünsche uns eine wunderbare diagonale, let us enjoy."
Ein paar Buhrufe
Bei der Eröffnung der Diagonale war auch der neue Vizekanzler - und für die Kulturagenden zuständig - Andreas Babler (SPÖ) zugegen - einer seiner ersten Besuche einer größeren österreichischen Kulturveranstaltung in der neuen Funktion. Die Begrüßung der Politikvertreter geriet übrigens kurz zu einer Unmutsäußerung eines Teils des Publikums gegen Kulturlandesrat Karlheinz Kornhäusl (ÖVP) wegen Kürzungen in der steirischen Kulturpolitik.
INFO: Filmfestival Diagonale vom 27. März bis 1. April, Info und Tickets unter www.diagonale.at
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