Claude Lanzmann: Vierstündige Viennale-Premiere
Die Standing Ovations, die es bei der Uraufführung in Cannes (der KURIER war vor Ort) oder der Vorführung im Rahmen des New York Film Festivals gegeben hatte, vermisste Claude Lanzmann in Wien. Immerhin respektvollen Applaus gab es am Sonntagabend für den französischen Regisseur anlässlich der Österreich-Premiere von "Der Letzte der Ungerechten" im Wiener Gartenbaukino. Die fast vierstündige Dokumentation, von Festival-Chef Hans Hurch als "der zentrale Film dieser Viennale" angekündigt, basiert auf langen Gesprächen, die Lanzmann 1975 mit dem Wiener Rabbiner Benjamin Murmelstein geführt hatte, und wurde nun genau am 24. Todestag Murmelsteins im Rahmen einer Gala gezeigt.
"Der Letzte der Ungerechten" bietet, wie Lanzmann bereits mehrfach betont hat, drei Protagonisten: den damals 70-jährigen Murmelstein, der sich nach Überwindung großer Zweifel über den Dächern Roms vom französischen Filmer stundenlang interviewen ließ und sich damit bereitwillig der "letzten Gefahr" aussetzte, die ihm nach einem frühen Freispruch in einem tschechischen Prozess und etliche publizistischen Angriffen seiner Meinung noch drohte; den damals 49-jährigen Lanzmann; und den Filmemacher von heute, der bei Besuchen der einstigen Schauplätze mit Kommentaren und Verlesungen von Dokumenten anders als in seinem bisherigen Schaffen starke eigene Präsenz vor der Kamera zeigt.
Duell
Der Film, für den Lanzmann auch auf den 1944 von den Nazis gedrehten Theresienstadt-Propagandafilm zurückgreift, ist dort am stärksten, wo er auf ein Duell zweier Männer hinausläuft: des Interviewers, der sehr wohl weiß, wie umstritten Murmelstein ist und auch gelesen hat, dass Gershom Scholem für ihn als Kollaborateur die Todesstrafe gefordert hatte, und des Interviewten, der mit Witz, Eloquenz und Intelligenz sein Gegenüber zunehmend für sich einnimmt.
"Kein Kollaborateur"
Für Nachfragen aus dem Publikum, warum ausgerechnet die Zeit zwischen der Beteiligung an dem Plan, im Herbst 1939 unweit des polnischen Nisko ein Lager aus dem Boden zu stampfen, und seiner eigenen Deportation nach Theresienstadt im Jänner 1943, jene umstrittene Zeit also, als er in Wien für Ausreisen und Deportationslisten mitverantwortlich war, im Film kaum Erwähnung fänden, hatte Lanzmann deutlich weniger Verständnis. Einen Film zu machen, bedeute auch, Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen etwa darüber, was man weglassen müsse.
Im Premierenpublikum befanden sich am Sonntagabend auch zwei Zuschauer, die sich mit der Person des Wiener Rabbiners und letzten "Judenältesten" von Theresienstadt in den Vergangenheit intensiv auseinandergesetzt hatten: der Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici, der ein Buch über den Wiener Judenrat geschrieben hat, und der Autor Robert Schindel, dessen an Murmelsteins Geschichte angelehntes Stück "Dunkelstein" in einem Jahr im Wiener Nestroyhof uraufgeführt werden soll. Die APA sprach mit den beiden über ihre Einschätzung des Films.
Flaschenpost aus früherer Zeit
Der Schriftsteller und Historiker hat sich für sein im Jahr 2000 erschienenes Buch "Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat" ausführlich mit der Person Murmelstein befasst. "Ich kannte Lanzmanns Material damals nicht. Aber heute ist es mir beinahe, als hätte mir ganze Passagen meines Buches selbst diktiert. Mein Murmelstein-Bild wird durch den Film bestätigt. Er erzählt ohne Empathie, aber auch ohne Pathos. Es wirkt wie eine Flaschenpost aus früherer Zeit. Er lügt nicht. Gelegentlich beschönigt er jedoch - wie jeder von uns."
"Murmelstein hatte keinerlei Einfluss darauf, wie viele Juden deportiert werden sollten", weiß Rabinovici aus der wissenschaftlichen Forschung. "Die jeweils etwa Tausend, die deportiert werden sollten, wurden nicht von ihm aufgelistet, sondern von der nationalsozialistischen 'Zentralstelle für jüdische Auswanderung'. Die Kultusgemeinde durfte manche Personen aufgrund vorher festgelegter Kriterien wieder heraus reklamieren."
Rabinovici ist nicht der Ansicht von vehementen Murmelstein-Gegnern wie Gershom Scholem oder Hannah Arendt, dass jede Mitwirkung an der NS-Verwaltungsstruktur bereits Beihilfe zum Massenmord war. "Es gab keine Möglichkeit, da nicht mitzutun", ist Rabinovici überzeugt. Wollte man das totale Chaos und ein Zusammenbrechen jeglicher Strukturen verhindern, sei es völlig klar gewesen, mittun zu müssen, weil man nur so etwas bewirken konnte. "Dass andererseits Murmelstein mit einer Weigerung viel bewirken hätte können, ist eine Überschätzung seiner Position. Allerdings hat er sich geweigert, Opfer zu sein. Er wirkte kalt, mitunter zornig, intellektuell, nicht empathisch. Das wird ihm heute vorgeworfen. Das ist aber eine Frage der Sympathiewerte und für die Sache völlig irrelevant." Was ihm dafür nicht zugute geschrieben werde, sei, dass er 120.000 Wiener Juden die Ausreise ermöglicht habe.
"Schreckliche Perspektive"
Den Massenmord aus der Perspektive der Judenräte zu zeigen, sei "die schrecklichste Perspektive, denn als solcher musste man sich in die Mörder hineindenken, um das Beste für die eigene Gemeinde heraus zu verhandeln", so Rabinovici zur APA. Man dürfe außerdem nicht vergessen, dass Murmelstein täglich bei NS-Verbrechern wie Alois Brunner oder Adolf Eichmann zum Rapport musste, also ständig hohem Druck ausgesetzt gewesen sei. Vorwürfe gegen Judenräte wie Murmelstein gehorchten letztlich der Täter-Ideologie: "Man wirft den Opfern ihre Überlebensstrategien vor. Man wirft den Opfern vor, in Tateinheit mit den Tätern zu sein. Das ist pervers. Das Opfer will entkommen - und muss daher kooperieren. Das ist ihm nicht vorzuwerfen. Man will ein perfektes Opfer. Aber nur ein totes Opfer ist ein perfektes Opfer. Das zeigt, wie verseucht unser Denken von diesem Massenmord ist."
Warnung
"Der Film ist ein beeindruckendes Zeugnis über die extrem schwierige Position der 'Judenältesten' und eine Warnung, sie allzu schnell zu verurteilen, wie es etwa Hannah Arendt gemacht hat", sagt Robert Schindel, der bereits die neunstündige Rohschnittfassung des Lanzmann-Films gekannt hatte. "Das Material hat mich für mein Theaterstück 'Dunkelstein' inspiriert. Aus dem Steinbruch Murmelstein ist die literarische Figur Dunkelstein geformt worden." In mancher Hinsicht habe er allerdings bewusst Gegensätze zur realen Figur verwendet.
Wie auch manche andere Besucher der gestrigen Österreich-Premiere hält auch Schindel das Wien-Kapitel für ein wenig zu kurz geraten. "Lanzmann hat sich zu sehr auf Theresienstadt fokussiert, aber es ist sein Film und daher seine Entscheidung. Ich hätte auch lieber etwas weniger Lanzmann von heute und etwas mehr Murmelstein gesehen, denn es ist ja ein großer Lebensbericht, eine Lebensbeichte, obwohl er nichts zu verbergen hatte. Er hat aus dieser aussichtslosen Sache das Beste gemacht. Er musste sich immer zwischen Pest und Cholera entscheiden. Keiner von uns weiß, was er selbst an seiner Stelle gemacht hätte. Er war kein Held. Er war kein Märtyrer, wie Adam Czerniakow, der Judenälteste von Warschau, der sich umgebracht hat. Aber er war ein mutiger Mann."
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