Paolo Rumiz: Wo man nach oben und nach unten betet

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Der Triestiner Autor Paolo Rumiz und seine „Stimme aus der Tiefe“.

„Ich glaube, dass die Suche nach der unterirdischen Welt auch aus meiner biologischen Evolution resultiert. Ich werde alt. Mein ganzes Leben lang habe ich weit nach vorn und hoch hinauf geschaut. Jetzt schaue ich auf das, was unter meinen Füßen ist.“

So beschreibt der Triestiner Autor und Journalist Paolo Rumiz, warum er sich in seinem jüngsten Buch „Eine Stimme aus der Tiefe“ mit der Unterwelt Italiens beschäftigt. Der geografischen Unterwelt, in der es „brodelt, bebt und aus der giftige Dämpfe und Erinnerungen“ aufsteigen.

Rumiz ist Segler, Wanderer, Autor eigenwilliger Bücher. Rumiz, geboren 1947, war Kriegsreporter, schrieb Reportagen von Radtouren nach Istanbul, Bus-, Anhalter- und Fußreisen zu den Rändern Europas und in die Arktis. Er segelte entlang der alten Handelsrouten Venedigs und verbrachte Wochen auf einem einsamen Leuchtturm im Adriatischen Meer.

Nun begibt er sich auf die Spur der Verwerfungslinien, die Italien zum erdbebengefährdetsten Land in Europa machen. Die Nord-Süd-Verwerfungslinie folgt dem Apennin, die Ost-West-Verwerfungslinie durchquert Italien in der Breite auf der Höhe von Neapel. Rumiz besteigt auf seiner Reise zerklüftete Berge auf den Äolischen Inseln und die Krater des Ätna, er erkundet unterirdische Quellen im Karst, Höhlen der Eremiten in Kalabrien und frühchristliche Katakomben in Rom.

Er befragt alte und neue Kulte und Mythen, spricht mit Menschen aus Wissenschaft, Politik und von der Straße: Wie lebt man auf so unsicherem Terrain? Was treibt etwa die Neapolitaner dazu, seit Tausenden von Jahren an diesem sehr gefährlichen Ort zu leben? „Die Antwort steckt eigentlich schon in der Frage: Es ist so etwas wie die Akzeptanz des Lebens. Das Leben ist doch voller negativer Überraschungen. Aber wir lernen, mit diesen Dingen zu leben. Wir alle wissen, dass das Leben prekär ist, und die Neapolitaner wissen das besser als jeder andere.“ Eine gewisse Akzeptanz des Schicksals, eben, sagt Rumiz.

Die Gefahr akzeptieren

Und er erzählt von den Menschen des Nordens, die immer nur eine Angst gehabt hätten: Dass ihnen der Himmel auf den Kopf fallen könnte. Die Menschen im Süden hingegen fürchteten sich vor einem verborgenen Gott, der sie nach unten holt. „Wenn Sie also zu Gott beten, beten Sie nicht nur nach oben, sondern auch nach unten.“

Bei den Neapolitanern käme dann noch eine gehörige Portion Stolz dazu. „Sie sagen: Wir lieben unser Land so sehr, dass wir die Gefahr akzeptieren. Wer sich an das Erdbeben in Aquila 2009 erinnert: Der Ort wurde wieder aufgebaut, er ist wunderschön, aber hat nicht mehr dieselben Einwohner. Die Leute sind weggezogen. In Neapel hingegen ist es genau umgekehrt. In Neapel können Sie niemanden überzeugen, wegzugehen.“

Erfahrungen mit Erdbeben hat Rumiz freilich auch in seiner Heimat, dem Friaul gemacht. Die Gegend wird immer wieder von Erdstößen heimgesucht und immer wieder hat Rumiz hat Funken sprühen sehen, wenn Steine aneinander rieben.

Die Bestimmung finden

Trotzdem: In gewisser Weise ist das Buch „Stimmen aus der Tiefe“ auch eine Art Reiseführer. Einer, der einen lehrt, auf den Weg zu achten. „Touristen schauen immer nach oben. Wer dieses Buch gelesen hat, blickt auch auf das, was darunter liegt.“

Rumiz erzählt von Grotten, von Höhlen und von Mythen. Davon, dass man der Erde zuhören muss. Und dann erzählt er von seiner Nachbarin Francesca. Sie ist 95, aber sie bearbeitet täglich ihr Stückchen Land. Wenn nach einer langen Periode der Dürre endlich Regen kommt, dann nimmt sie ihren Nachbarn Paolo an der Hand und sagt: „Paolo, fühl, wie glücklich die Erde ist.“

„Wir alle haben eine Mission im Leben“, ist Francesca überzeugt. „Meine Bestimmung ist es, Kartoffeln anzubauen. Paolos Bestimmung ist es, Worte zu kultivieren.“

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Paolo Rumiz:
„Eine Stimme aus der Tiefe“
Ü.: Karin 
Fleischanderl
Folio.
295 Seiten.
28,95 Euro