Was Freude am Leben mit Gedanken an den Tod verbindet

46-219412077
Die japanisch-niederösterreichische Schriftstellerin Milena Michiko Flašar schreibt über das Sterben. Und das ist gar nicht traurig. Sich mit dem Tod anzufreunden, macht sie lebendiger.

Milena Michiko Flašar hat sich in ihren Büchern oft Gedanken über den Tod gemacht. Durchaus launig. Zuletzt schrieb Sie in „Oben Erde, unten Himmel“ über einen Mann, der die Wohnungen einsam Verstorbener ausräumt. In ihrem neuen Essay fragt sie, ob man das Sterben lernen kann.

KURIER: Elias Canetti hat sich, ähnlich wie Sie, viel mit dem Tod beschäftigt. Sinngemäß sagte er, der Tod gehört abgeschafft. Ich nehme an, Sie sind nicht einverstanden?

Milena Michiko Flašar: Nein, aber ich kann ihn verstehen. Ich kann diesen Wunsch, ewig zu leben, verstehen. Ohne Krankheiten, ohne damit einhergehende Schmerzen. Dass es kein Vergehen gibt und man immer in dem Zustand wie jetzt sein Leben genießen darf. Aber die Realität ist eben anders. Sie zu akzeptieren und sich nicht dagegen zu stellen, ist eine Lebensaufgabe, der wir uns notgedrungen zu stellen haben.

Sie haben nun einen Essayband herausgebracht, der heißt „Sterben lernen“. Kann man das lernen?

Eben nicht. Das ist ein bisschen wie mit dem Elias-Canetti-Zitat. Sterben lässt sich nicht abschaffen. Und man kann es auch nicht lernen. Genau deshalb haben wir Angst vor dem Tod. Weil wir nichts über ihn wissen. Wir sehen natürlich Angehörige, die älter und schwächer werden, die irgendwann dahingehen. Aber was bedeutet es wirklich, seinen letzten Atemzug zu tun? Was passiert mit der Individualität, mit dem Ich? Wir können die Menschen, die den Tod kennengelernt haben, nicht mehr dazu befragen, und so haben wir letztlich keinerlei Wissen über ihn in der Hand. Das ist das Verstörende. Und damit hadern wir verständlicherweise.

Sie schreiben, ein Teil einer möglichen Annäherung an das Sterbenlernen sei eine Form von Offenbleiben für das Werden, für die Veränderung.

Wir sehen, wie sich alles um uns herum verändert. Die Jahreszeiten etwa. Jetzt ist es Herbst, die Blätter verfärben sich, fallen vom Baum, und das wiederholt sich, ist ein ständiger Kreislauf aus Sein, Werden und Vergehen. Als Menschen sind wir Teil dieses Zyklus. Und in dem Sinne kann man vielleicht nicht sterben lernen, aber man kann sich vorbereiten auf den Tod, indem man auf solche Veränderungsprozesse achtet und sie bewusst wahrnimmt. Auch nachdem ich dieses Buch geschrieben habe, habe ich nicht gelernt, was es bedeutet, zu sterben. Aber ich habe mich mehr und mehr mit der Idee zumindest meiner eigenen Vergänglichkeit anfreunden können. Das Nachdenken über den Tod hat bei mir viel Wertschätzung gegenüber dem Moment und dem Leben im Jetzt hervorgebracht.

In unserem Kulturkreis ist der Tod etwas Finsteres, Erschreckendes. In anderen Kulturen ist das nicht so. Sie sind in Niederösterreich aufgewachsen, als Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters. Haben Sie durch Ihr Aufwachsen eine andere Akzeptanz dem Tod gegenüber erfahren?

Meine Kindheit war durch das Aufwachsen in Niederösterreich mit einem österreichischen Vater einerseits katholisch geprägt, andererseits durch meine Mutter auch sehr japanisch. Japanisch bedeutet im religiösen Sinne shintoistisch, also einerseits der starke Glaube an die Beseeltheit der Dinge. Daran, dass alles eine Seele hat, ob das jetzt ein Berg ist oder ein Fluss oder ein Gegenstand wie ein Buch. Alles hat eine Seele. Und dann gibt es noch den aus dem Buddhismus stammenden Glauben an die Wiedergeburt. Dass es nach dem Tod keinen Punkt gibt, sondern mehrere Punkte. Es gibt ein Weiter. Es gibt eine Wiederholung. Da sind wir wieder bei dem Zyklischen. Alles zusammen hat mich sicher geprägt.

Sie haben sich zu diesem Essay entschlossen, während Sie eine Kurzgeschichte von Haruki Murakami lasen, in der es sinngemäß heißt: Leben und Sterben haben den gleichen Wert.

Für mich war das Interessante an der Geschichte, dass die Hauptfigur mit Mitte 40 zu einer Geistheilerin kommt, und die sagt ihr: Du solltest dich langsam mit dem Tod beschäftigen. Sonst wirst du keinen guten Tod sterben. Weil Leben und Tod von gleicher Bedeutung sind, gilt es, sich beidem zu widmen. Wenn wir den Tod immer nur als ein schreckliches Ende begreifen, dann verfehlen wir ihn auch. Es wäre viel lohnender, wenn wir ihn als eine Fortsetzung denken könnten. Wenn wir akzeptieren, dass er ein Teil unseres Lebens ist. Das in der Tiefe zu verstehen, ist schwierig. Aber es verstehen zu wollen, hilft mir persönlich, im Fluss zu bleiben. Die Freude am Leben schließt das Denken an den Tod mit ein. Gerade weil ich weiß, es kann jederzeit zu Ende gehen, bin ich umso lebendiger.

Ist diese Akzeptanz der Gegenwärtigkeit des Todes in Japan ausgeprägter als in unserer Gesellschaft?

Ich glaube schon. In der japanischen Kultur liegt der Fokus ganz klar auf der Flüchtigkeit unseres Seins.

Hilft dieses Bewusstsein der Vergänglichkeit aller Dinge und seiner selbst auch im Alltag, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen?

Auf jeden Fall. Und es ist auch heilsam, mal von der eigenen Meinung abzurücken und sie zu hinterfragen. Die gilt für einen selbst ja immer als die absolute Wahrheit, und in der möchte man recht haben. Aber wenn wir auf dieses Rechthaberische verzichten würden, indem wir uns selbst nicht so ernst nähmen, entstünde mehr Raum für Mitgefühl. Das würde unserer Diskussions-, aber auch politischen Kultur guttun.

Jetzt reden wir hier sehr schön und sehr theoretisch über den Tod. Aber was, wenn wir tatsächlich einen Menschen verlieren? Geht es uns dann nicht eher wie Thomas Bernhard? Der hat gesagt: Angesichts des Todes ist alles lächerlich.

Ich denke schon. Es gibt ja diese Trauerphasen. In der ersten Phase leugnet man den Tod, man will ihn nicht wahrhaben. Dann brechen die Emotionen über einen herein, Emotionen wie Verzweiflung und Schmerz, aber auch Wut und Schuld: Warum bist du gegangen, warum hast du mich verlassen? Das heißt, die Trauer ist ein Prozess der Wandlung und unterliegt somit dem Zyklischen. Verzweiflung und Wut können immer wieder mal auftauchen, es gibt aber auch Momente des tiefen Friedens und der Einsicht. Hoffnung stellt sich ein, oft durch das Gefühl, in Verbindung mit dem Verstorbenen zu sein, man spürt ihn irgendwie oder ertappt sich dabei, mit ihm zu reden, so als ob er noch da wäre. Das kann dann, wie gesagt, wieder kippen, was nur allzu menschlich ist.

Manche sagen, ein Mensch ist nicht ganz tot, solange es jemanden gibt, der an ihn denkt.

Ich glaube, dass das Denken an jemanden oder das innere Reden mit jemandem denjenigen für einen selber lebendig hält. Das ist auch das Traurige an alten Fotos, auf denen Menschen abgebildet sind, an die wahrscheinlich gar niemand mehr denkt, weil ihr Leben zu lange zurückliegt. Bei dem Gedanken, es gibt für diese Menschen, die einmal existiert haben, nicht einmal mehr einen Grabstein, auf dem ihr Name steht, befällt mich ein Gefühl von Einsamkeit.

Ist ein Grabstein wichtig?

Früher dachte ich, das sei eine Formsache. Aber seit dem Tod meines Vaters sehe ich das anders. Er ist in einem Waldfriedhof bestattet. Da gibt es zwar keinen Grabstein, aber einen Baum, der Jahr für Jahr größer wird. Einen greifbaren Ort zu haben, einen, an dem man sich versammelt und an dem man gemeinsam des Toten gedenkt, hat eine große Wirkkraft.

Machen Sie sich selbst Gedanken darüber, ob Sie eines Tages einen konkreten Ort wollen, wo man sich an Sie erinnern kann und wie der ausschauen soll?

So ganz konkret nicht, aber einen Waldfriedhof kann ich mir vorstellen. Weil der Baum symbolisch für den Wechsel der Jahreszeiten, also für die Vergänglichkeit, steht. Aber auch für Wachstum. All das Leben, das in einem Baum wohnt! Vögel und Käfer! Ja, unter so einem Baum zu liegen, könnte ich mir vorstellen.