Briefe an Canetti: "Warte im Schnee vor deiner Tür..."

Als Friedl Benedikt am 3. April 1953 im 37. Lebensjahr in der Nähe von Paris an Krebs stirbt, ist auf ihrem Totenschein „femme de lettres“ vermerkt, „Schriftstellerin“. Etwas anderes hatte sie nie sein wollen.
Friedl Benedikt, 1916 in Wien geboren, stammte aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie. Mit zwanzig lernte sie den zwölf Jahre älteren Elias Canetti kennen und erkor ihn zum Lehrer (sie hatte seine „Blendung“ gelesen), später zum Liebhaber. Die Beziehung überdauerte auch die Emigrationszeit in England, wohin beide vor den Nazis flohen. Canetti blieb, trotz anderer Beziehungen, bis zu ihrem Tod ihr Vertrauter. Unter dem meist wohlwollenden Blick seiner Frau Veza.
Unter dem Namen Anna Sebastian veröffentlichte Friedl Benedikt in den 1940er-Jahren drei Romane und führte viele Jahre literarische Tagebücher, die sich in Elias Canettis Nachlass erhalten haben. Canetti hatte der jungen Friedl geraten: „Du bist ein geborener Erzähler, und eigentlich sollst Du täglich etwas für Dich erzählen.“
Der Wiener Kulturwissenschaftler Ernst Strouhal ist der Neffe von Friedl Benedikt. Vor zwei Jahren zeichnete er anhand von Briefen die Geschichte seiner Familie nach („Vier Schwestern“), nun hat er mit der Literaturwissenschaftlerin Fanny Esterházy unter dem Titel „Warte im Schnee vor Deiner Tür“ die erhaltenen Notizbücher Friedl Benedikts herausgebracht. Sie stammen aus England, aus Schweden, ab 1947 Benedikts zweites Exilland, und von ihren Reisen durch Europa in der Nachkriegszeit.

Kulturwissenschaftler Ernst Strouhal ist der Neffe von Friedl Benedikt
Komplizierte Beziehung
Friedl Benedikt war sehr jung, als sie beschloss, Künstlerin zu werden, erzählt Ernst Strouhal im Gespräch mit dem KURIER. Sie gab die Schule auf, versuchte zuerst am Reinhardt Seminar Fuß zu fassen, dann schlug sie den Weg der Schriftstellerin ein. Sie wählte den Autor der „Blendung“ als Lehrer, der ihr beibrachte, genau hinzuhören, und ihr Schreibaufgaben gab. Es war eine komplizierte Beziehung. Canetti war ihr unerbittlicher Lehrer, väterlicher Freund und Geliebter. Zwischen 1938 und 1953 schrieben die beiden einander unzählige Briefe, viele davon sind verloren, viele befinden sich in der Canetti-Stiftung in Zürich, die Johanna Canetti, die Tochter des Nobelpreisträgers, verwaltet. „Da gibt es viele, auch sehr verzweifelte Briefe. Sie sind aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Es gibt ein Recht auf Intimität“, sagt Strouhal.
„Warte im Schnee vor Deiner Tür“ sind kleine literarische Skizzen, die in Wien begonnen und in London mit großem Eifer fortgeführt wurden. Die Adressierung der Skizzen an Canetti macht ihn zwar zum ersten, nicht aber zum alleinigen Leser. Das Verhältnis zu Canetti, den sie auch „Ilja“ nennt, bleibt immer ambivalent. In London kehrt sich die Beziehung um. Nun ist sie bald die prominentere Autorin. Sie will, schreibt sie, aus dieser Emigrantenzeit „etwas Ordentliches“ machen, will „erfolgreich sein.“ Ihre ab dem zweiten Roman auf Englisch verfassten Bücher werden von der Kritik nachgerade euphorisch rezensiert. Es gelingt ihr, die Sprache zu wechseln, sie wird eine anerkannte Autorin. Nur nicht in Österreich. Hier interessiert sich auch nach 1945 niemand für sie.

Friedl Benedikt zu Besuch in Österreich Anfang der 1950er-Jahre
Es gibt mehrere Lesarten für diese Notizbücher, sagt Literaturwissenschaftlerin Fanny Esterházy. „Einerseits kann man sie einfach als Literatur lesen. Zugleich erzählen sie ein historisches Panorama.“ Das enorme Recherchearbeit voraussetzte, unter anderem mussten Namen rekonstruiert werden. Friedl Benedikt erwähnt meist nur Vornamen, schreibt von geselligen Runden mit prominenten Künstlern, Politikern, Intellektuellen. Spielerisch und unmittelbar berichtet sie etwa von einem gewissen „Dylan“. Gemeint ist der Dichter Dylan Thomas. Jung, frisch und ungeniert schreibt sie in fröhlichem Plauderton und witzigen Dialogen, die aus einem Film von Ernst Lubitsch stammen könnten. Sie beobachtet neugierig, manchmal spöttisch, in einer charmanten Mischung aus Wienerisch und Englisch. Ihre Wohnung ist eine „Flat“, ein Schlitzohr immer noch ein „Pülcher“. Auch ihre literarischen Überlegungen zu Flaubert, Proust oder Hemingway sind voll Witz. Ersteren schätzt sie, Proust hat ihr zu viel Standesdünkel, Hemingway ist ihr zu kitschig.
Sie reift im Lauf der Zeit als Schriftstellerin, wird knapper, eindringlicher. Im Sommer 1950 besucht Friedl Benedikt zum ersten Mal wieder Österreich und ihr Elternhaus, die arisierte Villa in der Himmelstraße 55 in Grinzing. „Gegen Abend wanderte ich die steile Straße, wo wir früher gewohnt haben, hinauf (...) Ich konnte mich kaum zurechtfinden, aber einige Bäume stehen noch, die ich allmählich wiedererkannte.“
Eindringlich erzählt sie, wie verwahrlost das Haus ist, ihr ehemaliges Zimmer und das ihrer Mutter kaum wiederzuerkennen sind. „Dann schlich ich aus dem Haus und ging leise davon, damit mich niemand sah und erkannte.“

Elias Canetti
Die verlorenen Tage
Im Dezember 1951 wird bei Friedl Benedikt Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert. Auf Vermittlung von Canettis Bruder Georges kommt sie Ende Mai 1952 in das American Hospital in Neuilly bei Paris. Sie schreibt weiter, auch wenn ihr die Kraft fehlt. „Nur ein Satz am Tag. Die verlorenen Tage. Sie sind nur Schwäche und Schwäche. Die Bäume sind jetzt kahl.“
Im April ist es vorbei. Friedl Benedikts Leben, sagt Ernst Strouhal, war gewiss eine kurze Reise. Sie hatte nie eine eigene Wohnung, kaum je eigene Möbel, alles, was sie besaß, passte in einen Koffer. Friedl Benedikt war mit leichtem Gepäck unterwegs. Doch ihr Leben war ein erfülltes Leben. Sie wurde, was sie sein wollte: Schriftstellerin.

Friedl Benedikt:
„Warte im Schnee vor
deiner Tür“
Hrsg.: Fanny
Esterházy, Ernst Strouhal.
Zsolnay.
336 Seiten.
27,50 Euro