Alison Bechdel: Das Fleecejacken-Jahrzehnt

Alison Bechdel: Das Fleecejacken-Jahrzehnt
"Das Geheimnis meiner Superkraft": Alison Bechdels herzergreifend komische Sinnsuche folgt dem Weg der körperlichen Selbstoptimierung

Der Pfad zur Erleuchtung führt über Karate, Yoga, Akupunktur und Qigong. Nicht zu vergessen: Bachblüten. Und Bier.

Die US-Autorin Alison Bechdel widmet sich in ihrer Graphic Novel „Das Geheimnis meiner Superkraft“ der Verbindung zwischen Geist und Körper. Eventuelle Vorbehalte nimmt sie gleich vorweg, indem sie selbstironisch fragt, ob ein „weiteres Fitnessbuch einer weißen Frau wirklich das ist, was wir gerade brauchen“. Aber es gehe hier natürlich um etwas ganz anderes. Nämlich um Sinnsuche. „Und all den anderen Quatsch des Universums.“

Bereits in ihrer Graphic-Novel-Autobiografie „Fun Home“ (2006) machte die heute 62-jährige Amerikanerin blitzgescheite Beobachtungen des US-Alltags und stellte Fragen zu elterlichen und eigenen Depressionen sowie zu sexueller Identität. Literarische Streifzüge von Virginia Woolf bis Marcel Proust inklusive. Sprachlich wie zeichnerisch brillant, schilderte Bechdel in „Fun Home“ das Familienleben bis zum Selbstmord des versteckt homosexuellen Vaters. „Fun“ stand für „Funeral Home“ – die Familie hatte ein Beerdigungsinstitut.

Alison Bechdel: Das Fleecejacken-Jahrzehnt

Alison Bechdel:
„Das Geheimnis meiner Superkraft“
Kiepenheuer  & Witsch.
237 Seiten.
30,90 Euro

KURIER-Wertung: 5 von 5 Sternen

Auch diesmal geht es im Grunde um die Frage: Wer bin ich? Alison macht sich früh Gedanken über ihre Familie und analysiert sich und ihre Umgebung. Noch weiß sie nichts von den Depressionen der Mutter und den Geheimnissen ihres Vaters, doch sie sorgt sie um sie. Die Konfrontation mit dem Tod ist durch das elterliche Bestattungsunternehmen normal, ebenso Fragen nach Seele und Jenseits. „In der Sonntagsschule erklärte man uns, dass unser Kater keine Seele habe. Aber warum? Er hatte doch Selbstbewusstsein.“ Alison ist kaum zehn Jahre alt und beneidet den Kater, denn er hat, weiß Gott, mehr Selbstbewusstsein als sie.

Der Weg, Selbstzweifel, vor allem aber die Angst vor dem Tod zu überwinden, ist der Sport. „Ungefähr zu dieser Zeit wuchs meine Faszination für körperliche Unbesiegbarkeit.“

Sie beginnt zu laufen, lange bevor es eine Sportswear-Industrie gibt. Unisex-Kleidung kommt erst in den 70ern auf den Markt. Nach Yoga in den 80ern, lange, bevor jeder eine Yogamatte durch die Gegend schleppte und ständig an einer Wasserflasche nippte, folgen in den 90ern Ausrüstungs- und Trainingsorgien rund ums Bergsteigen und Radfahren. Das Outlet des Outdoor-Bekleidungsherstellers Patagonia wird zu ihrem Mekka, in einer Fleecejacke dieser Marke wird sie „ein Jahrzehnt“ verbringen.

Bechdel zeichnet mit ihrer (Sport)Autobiografie auch eine Geschichte der USA: Die 60er waren eine Welle der Befreiung, doch für ihre Eltern kam diese Befreiung zu spät. Und für das Mädchen Alison etwas zu früh. „Wir zappelten gemeinsam in der Brandung.“ Denn: „Ich hatte befürchtet, Mädchen mehr zu mögen als Jungs, aber das soziale Chaos war schon so kompliziert genug – ich konnte jetzt nicht auch noch homosexuell sein.“

Neben Sport wird die Literatur zur Sinnstifterin, Alison ist „Kettenleserin“, fühlt sich von Emerson und Thoreau verstanden. Jack Kerouacs Roman „Dharmajäger“, eine spirituelle Sinnsuche, wird ihr zum Kultroman. Kerouac und Bechdel teilen ähnliche Leidenschaften: Buddhismus, Sex, Alkohol.

Im Laufe ihres Lebens wird sie sich „wie Houdini aus einem selbstauferlegten Zwang nach dem anderen befreien“. Freilich, „in Form bleiben“ gehört weiterhin dazu. Die Sinnsuche ist vielleicht nie beendet.

Zart und selbstironisch ist dieses Buch. Herzergreifend.