Bachmannpreis: Von rehäugigen Männern und Sätzen, die für Tattoos taugen
Der letzte Lesetag brachte Fragen zur Grenze zwischen Behutsamkeit und Betulichkeit (Klaus Kastberger über Tara Meister), schönste Sätze, die sich manche gar tätowieren lassen wollen (Mithu Sanyal über Tara Meister) und nach der Steirerin Natascha Gangl mit dem 1965 in Moskau geborenen Berliner Autor Boris Schumatsky einen weiteren Favoriten.
Auf Einladung von Philipp Tingler las er den Text „Kindheitsbenzin“, der von Gespaltenheit und Sprache in einem totalitären System handelt und die Jury einhellig überzeugte. Brigitte Schwens-Harrant lobte die erzähltechnische Konstruktion des Textes, der „sehr unter die Haut gehe“. Klaus Kastberger nahm das Wort „grandios“ in den Mund, Mara Delius lobte die Ernsthaftigkeit des Textes, den sie als „besten des Jahres“ bezeichnete und Laura de Weck fand, er zeige auf beeindruckende Weise, wie Propagandasprache funktioniere.
Viel Zuspruch erntete auch Almut Tina Schmidts Text „Fast eine Geschichte“, den die 1971 in Göttingen geborene, in Wien lebende Schriftstellerin auf Einladung von Brigitte Schwens-Harrant las. Der Titel war Programm: Als „Wimmelbild“, in dem „nichts ausgesprochen, und doch so viel klar wird“, bezeichnete Jurorin Mithu Sanyal den Text, der von einem Haus und seinen Bewohnern berichtete und dessen Spannung darin lag, „dass man denkt, gleich passiert etwas“, so Laura de Weck über diesen „hochliterarischen Text“, in dem sowohl Mara Delius als auch Philipp Tingler Lieblingssätze fanden – allerdings ohne Tattoo-Vorhaben. Über die vielen darin „angerissenen Minidramen“ (Schwens-Harrant) waren sich Thomas Strässle und Klaus Kastberger ausnahmsweise einig: Die Qualität des Textes läge in seiner Fragestellung: Welche Geschichten sind literaturwürdig?
Zuvor hatte die Schweizerin Nora Osagiobare, die auf Einladung von Thomas Strässle den Text „Daughter Issues“ gelesen hatte, Zustimmung gefunden: Juror Kastberger sah gar einen „Siegertext“, an dem „alles passt“, Philipp Tingler allerdings wies darauf hin, dass Aktualität „kein literarisches Merkmal“ sei. Für ihn war der in der Medienszene angesiedelte Text „zu modisch“.
Auch Tara Meister aus Wien polarisierte. Auf Einladung von Mara Delius las sie den Text „Wagashu oder“, in dem es um eine Gewalterfahrung geht. Sanyal fand ihn „wahnsinnig atmosphärisch dicht“, wollte sich gar Sätze davon als Tattoos einverleiben. Thomas Strässle sah einen poetischen Text, der es einem „nicht einfach“ mache. Ob er „geheimnisvoll oder geheimnistuerisch“ sei, ließ er offen. Lara De Weck lobte die Mehrdeutigkeit des Textes. Auch dass hier ausnahmsweise ein Mann „Rehaugen“ haben durfte, gefiel. Klaus Kastberger hingegen machte dieser Text „zu viel Theater“: „Behutsamkeit kann leicht zu Betulichkeit ausarten.“