Ein Heim der Vernunft und der Leidenschaft: Das Rietveld Schröder Haus

„Transformers“ heißen die Roboter aus der populären Spielzeug- und Filmserie, die sich in Autos, Maschinen oder Flugzeuge verwandeln können. Mit einem solchen Gerät habe ihr junger Sohn auch das Rietveld Schröder Haus als erstes verglichen, erzählt Natalie Dubois. Und er lag damit ziemlich richtig.
Das Gebäude, das hinter einer Reihe von typischen Backsteinbauten am Ende einer Straße in der niederländischen Stadt Utrecht steht, kann zwar nicht fliegen. Doch es verwandelt sich, je nach Tageszeit und den Bedürfnissen seiner Bewohner.
Die luftige, freie Fläche im Obergeschoß kann abends durch bewegliche Wände in mehrere Schlafzimmer unterteilt werden. Ein Waschzimmer verschwindet tagsüber hinter einer Wand. Die Küche im Erdgeschoß ist durch ein Sprachrohr mit dem Obergeschoß verbunden, ihre Fenster werden bei Sonne mit großen Holzpaneelen verschlossen, die gestapelt unsichtbar auf einem Kasten verschwinden. Alles passt zusammen wie Teile eines Puzzles und kann bedient werden wie ein präzises Instrument.

Ein Haus fürs Leben
Doch auf welche Menschen war dieser Wohnapparat, der in der Fachwelt längst als Ikone der Architektur- und Designgeschichte anerkannt ist, abgestimmt? Diese Frage hat Dubois, die als Kuratorin für Angewandte Kunst und Design am Utrechter Centraalmuseum seit Langem mit dem Haus vertraut ist, gemeinsam mit ihrer Partnerin Jessica van Geel in einem fast 900 Seiten starken Buch aufgearbeitet. Voll mit Anekdoten, Bildern und Dokumenten nennt es sich „Eine Biografie des Hauses“, bündelt aber auch Lebensgeschichten: Jene von Truus Schröder, die weit mehr war als nur eine Auftraggeberin. Und von Gerrit Rietveld, dem Architekten und Designer, mit dem Schröder weit mehr als eine bloße Arbeitsbeziehung verband.
Die Geschichte des Hauses ist jene einer Abnabelung: Die in eine konservative Familie geborene Gertruide „Truus“ Schräder (mit ä) hatte 1911 den Anwalt Frits Schröder (mit ö) geheiratet. Dessen Versprechen, wonach sich die junge Frau bilden und frei bewegen können sollte, stellte sich bald als hohl heraus: 1918 war Truus Schröder Mutter von drei Kindern. Und als ihr Mann 1923 starb, war sie für diese als Alleinerzieherin zuständig.

Bereits davor hatte Schröder allerdings in dem Möbeltischler Gerrit Rietveld einen Geistesverwandten gefunden: Als Gehilfe seines Vaters hatte er dem Anwalt einen Schreibtisch geliefert. Später richtete er für Truus Schröder ein Zimmer ein – eine Keimzelle der Moderne in einer Wohnung, die sonst noch ganz dem 19. Jahrhundert verbunden war.

Nach dem Tod ihres Mannes verkaufte Schröder ihre Wohnung – und startete das Gemeinschaftsprojekt, das als „Rietveld Schröder Haus“ Geschichte schreiben sollte. Rietveld, der sich ebenfalls von seinen Wurzeln emanzipiert hatte und als Teil der Bewegung „De Stijl“ einen Weg der radikalen Vereinfachung verfolgte, war ein zentraler Ideengeber, aber eben nicht nur das. „Dieses Haus war unser Kind“, sagte Schröder, als man sie 1974 nach ihrem Beitrag zum Design des Hauses fragte. „Bei Kindern fragt man so etwas nicht, oder?“
Rietveld war allerdings selbst Familienvater – er hatte insgesamt sechs Kinder. Und obwohl er mit Truus Schröder bis 1933 eine gemeinsame Architekturfirma („Rietveld Schröder Architect“) betrieb, deren Büro sich in einem kleinen Erdgeschoß-Zimmer des Wunderhauses befand, blieb er bis zum Tod seiner Frau im Jahr 1957 offiziell nur der kreative Partner.
Liebesbriefe
Tatsächlich aber waren die beiden Lebensmenschen einander auch amourös verbunden und schrieben sich leidenschaftliche Briefe – so auch 1932, als Rietveld in Wien weilte, um seinen Beitrag für die Wiener Werkbundsiedlung zu beaufsichtigen. Das vierteilige Reihenhaus, das gegenüber dem Beitrag von Adolf Loos in der bewohnbaren Architekturausstellung in Hietzing realisiert wurde, wird Rietveld allein zugeschrieben. Biografin Dubois sieht aber durchaus auch Schröders Hand im Spiel – nicht zuletzt, weil die Anlage viele Ähnlichkeiten zu Reihenhäusern hat, die das Paar 1931 in unmittelbarer Sichtweite des Rietveld Schröder Hauses realisierte.

Rietveld/Schröder: Haus Erasmuslaan
Truus Schröders Heim sollte noch viele Transformationen durchlaufen: Nachdem ihre Kinder ausgezogen waren, vermietete sie das Obergeschoß 1933 an einen Montessori-Kindergarten und bewohnte selbst das Erdgeschoß. Später residierte sie wieder oben, während sie Zimmer unten an Studenten vermietete. Rietveld zog nach dem Tod seiner Frau 1957 ein – und starb 1964 in dem Gebäude. Truus Schröder sollte es noch bis zu ihrem Tod 1985 bewohnen. Erst 1987 wurde das Haus, das das moderne Wohndesign weltweit revolutioniert hatte, für Besucher geöffnet.
- Das Buch: „Rietveld Schröder House - A Biography of the House“ von Natalie Dubois, Jessica van Geel ist auf Englisch und Niederländisch bei Hannibal Books erschienen (896 Seiten, 81,99 Euro).
- Das Haus in Utrecht (Prins Hendriklaan 50) ist für Publikum zugänglich, es werden aber stets nur eine limitierte Zahl von Personen eingelassen. Eine Vorab-Buchung ist notwendig.
- Die Website zum Haus bietet zahlreiche Ressourcen wie Audiotouren und Videos.
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