Eine Ebene der Erzählung ist also die Suche nach dem einstigen Schtetl Trachimbrod. Die Ausgangssituation ist kurios genug. Alex ist der Dolmetscher, aber sein Großvater ist der Chauffeur. Der behauptet aber, blind zu sein, deswegen hat er einen Blindenhund. Der heißt Sammy Davis Junior Junior und wird gespielt von Sarah Viktoria Frick. Es ist ziemlich lustig, wie sie - als energisch furzender Hund, was das Publikum nur berichtet bekommt und nicht riecht - den Reisegast leidenschaftlich besteigt. Jonathan wird belehrt, dass das gut für ihn ist, denn so lange sie sexuell erregt ist, beißt sie nicht.
Auch keine Wurst?
Die slapstickhaften Momente im stoßdämpferlosen Auto und andere Komik-Episoden, wie jene, in der Jonathan sein Vegetariertum gestehen muss ("Aber Wurst isst er schon?") machen den ersten Teil der dreistündigen Aufführung sehr kurzweilig. Die Reise selbst scheint ins Nirgendwo zu führen, denn keiner kennt dieses Trachimbrod. Bis die vier plötzlich doch auf eine Frau stoßen, die die Menschen auf dem von Jonathan mitgebrachten Foto erkennt. Ein veritabler Cliffhanger vor der Pause.
Ein Trachimbrod wird die schräge Truppe trotzdem nicht finden. Nur einen Stein, auf dem in mehreren Sprachen an die über 1.000 jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner erinnert wird, die hier von den Nazis ermordet wurden. Die Tonalität des Stücks wandelt sich krass im zweiten Teil, der in zwei Beschreibungen des Sadismus und der Grausamkeit der Auslöschung dieser Leben gipfelt. So schmiegt sich - überraschend oder auch nicht überraschend - auch das Schicksal von Alex' Großvater in die Geschichte. Wie er seinen besten Freund Herschel, einen Juden, verraten hat, weil er nur darin die Rettung für sich und seine kleine Familie gesehen hat, vermittelt Hans-Dieter Knebel (er ist sehr kurzfristig für den erkrankten Branko Samarowski eingesprungen) mit beklemmender Intensität.
Gründungsmärchen des Schtetls
Sarah Viktoria Frick spielt neben dem Hund hochmotiviert noch zwei andere Rollen. Einmal die Frau, die Jonathans einziger Erinnerungsanker in die Vergangenheit seines Großvaters wird, und die mythische Figur der Brod. Sie steht im Mittelpunkt einer Gründungsfabel, die Foer im Roman in die Leerstelle des vernichteten Trachimbrod geschrieben hat. Ein Mädchen, das aus einer im Fluss versunkenen Kutsche "herausgeboren" wurde, das von einem über 70 Jahre älteren Mann, Jankel, adoptiert wurde, deren Ehemann ein Sägeblatt in den Kopf gefahren ist, mit dem er aber gut leben konnte - bis auf allfällige Tourette-Attacken.
Diese dunkelgrau schillernden Schtetlmärchen sind es, die Straffung vertragen könnten an diesem insgesamt doch etwas zu langen Abend. Auch weil sie sich nicht harmonisch in das restliche Dramengefüge einflechten. Dafür funktionieren die vorgetragenen Briefwechsel zwischen Alex und Jonathan gut. Stefko Hanushevskys Alex zieht viel Humor aus dem poetisch verwordagelten Übersetzungsfehlern, etwa wenn er statt zu schlafen Schnarcher macht oder ein Verunfallter "falschen Umgang mit einer Mauer" hatte. Trotzdem fehlt ihm auch nicht die Reflexion über die Last der Geschichte, und es ist rührend, wenn er immer seine Geste der Erleuchtung mit funkensprühenden Fingern vor der Stirn macht. Sehr schön aber auch, wenn er auf Deutsch die Lieder seines Idols Michael Jackson nachsingt und -tanzt. Sean McDonagh gelingt der Spagat zwischen den "Muss-auch-jemand-spielen"-Rollen und Jonathan nicht so gut, der Autor ist etwas zu clownhaft angelegt. Was im zweiten Teil tatsächlich nervt.
Das Bühnenkonzept (Andrea Wagner) – ausschließlich Steinquader – geht verblüffend inspirierend auf: Die Ziegel können Grabsteine, Trauerkiesel, Babys am Arm oder in Dokumentenhaufen gefundene alte Fotos genauso darstellen wie eine durchstoßene Mauer der Verdrängung.
Regisseurin Salehpour gelingt es, den Roman unterhaltsam, aber auch nachdenklich lebendig zu machen - wenn man genug Sitzfleisch hat. Auch die Verbindungen zum aktuellen Krieg in der Ukraine kann man finden, wenn man will.
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