Heute irritierender
Erst nach diesen wie Auflockerungsübungen bei den Proben wirkenden Szenen findet jenes Erdbeben statt, um das dieses Stück eigentlich zirkuliert. Jenes in Santiago de Chile 1647, von Heinrich von Kleist in „Das Erdbeben von Chili“ verewigt. In dieser Novelle geht es um die verbotene Liebe einer Adelstochter und eines bürgerlichen Lehrers. Nachdem sie von ihm schwanger geworden ist, wird sie zum Tod verurteilt, er zu lebenslanger Haft. Das Erdbeben rettet beide, wenn auch kurz. Rüping hat in einer der wenigen Änderungen der Originalgeschichte diese Beziehung in eine in unserer Zeit stärker irritierende Form übersetzt: eine weiße Frau, Josephe (Elsie de Brauw), die einen 27 Jahre jüngeren, noch dazu schwarzen Mann, Jeronimo (Moses Leo), liebt.
Gleichmachende Liebe
Kleists Novelle ist hier aber nur eine Klammer, die sich wie eine fest zudrückende Faust um die Fragen „Was ist Liebe?“ und „Kann Liebe eine gesellschaftsverändernde Kraft sein?“ legt. In „Das Erdbeben von Chili“ führt das gemeinsam erlebte Trauma zu einer kurzen Periode, in der die Unterschiede in Stand und Klasse keine Rolle spielen. Rüping verbindet diese Vision mit der Theorie der US-Intellektuellen bell hooks. Sie postuliert, dass erst wenn die Liebe aus dem Privaten geschält wird, wenn Liebe bedeutet, dass allgemein niemand den anderen kleiner macht und daher auch keine dominierenden Schichten à la Patriarchat bestehen, eine Revolution der Gemeinschaft möglich ist.
In einem originellen Twist präsentiert „All About Earthquakes“ dann einen unerwarteten Propheten dieser Idee, der hooks’ Idee populär formuliert: Haddaway. Sein Song „What Is Love“ entstand 1992, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, also genau einer Zeit, in der Hoffnungen auf ein besseres Miteinander sprossen – aber nur kurz. „Don’t hurt me“ – Tu mir nicht weh, das wäre der Schlüssel zur gesellschaftlichen Neuordnung (eine nebenbei gesagt nicht ganz so revolutionäre Einsicht, wie aufmerksame Leser des Neuen Testaments wissen). Mit anschwellender Eurodance-Musik und packendem Schlagzeugsolo ist man versucht, sich dieser naiven Utopie hinzugeben.
Unmöglichkeit der Utopie
Aber dann geht das Stück weiter. Und endet mit dem von Kleist beschriebenen Blutbad an Josephe, Jeronimo und einem an einem Kirchenpfeiler zu Tode zerschmetterten Baby.
„All About Earthquakes“ gelingt viel: Wie aktuell die Unmöglichkeit dieser Utopie ist, zeigt nicht zuletzt, dass die letzte Szene an Schilderungen des Vorgehens der Hamas am 7. Oktober 2023 erinnert, auch die erschütterte Hoffnung auf ein achtsames Miteinander zu Beginn der Corona-Pandemie kommt ins Gedächtnis – ohne, dass die Inszenierung es dezidiert darauf anlegt. Es entstehen eindrucksvolle, vieldeutige Bilder, besonders nachdem die Bühne während eines „Stromausfalls“ zu einer Art Disco-Kathedrale mit bunten Butzenscheiben umgewandelt wurde. Das Ensemble (neben den Erwähnten: William Cooper, Martin Horn, Stacyian Jackson, Risto Kübar, Ole Lagerpusch, Benjamin Lilie, Abenaa Prempeh, Matze Pröllochs, Damian Rebgetz, Nina Steils, Romy Vreden) ist erstaunlich gleichwertig eingesetzt.
Diese eigentlich traurige Bestandsaufnahme nimmt sich aber immer wieder auch nicht übertrieben ernst. Damit holt Rüping Kleists ideengeschichtlich überfrachtete Novelle mit ein bisschen Banalitätsflitter effektiv ins Heute. Und lässt trotzdem die Faust das zwischendurch aufgehende Herz zerdrücken.
Wiederholungen bis 27. Mai im Volkstheater
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