Christopher Rüping: „Was steht der Liebe eigentlich im Weg?“

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Der Regisseur über seine Inszenierung „All About Earthquakes“, die am 24. Mai bei den Wiener Festwochen zur Uraufführung gelangt.

Christopher Rüping, 1985 in Hannover geboren, brachte 2019 an den Münchner Kammerspielen den zehnstündigen Theatermarathon „Dionysos Stadt“ heraus, der nicht nur mit einem Nestroy ausgezeichnet wurde: Das Online-Magazin „nachtkritik.de“ hat die Kompilation antiker Stoffe erst kürzlich auf Platz 3 seiner „Top 100 Theaterabende des 21. Jahrhunderts“ gereiht.

Und nun bringt der gefragte Regisseur „All About Earthquakes“ als Koproduktion mit Bochum bei den Wiener Festwochen zur Uraufführung: Er kombiniert „All About Love“ von Bell Hooks mit Heinrich von Kleists Novelle „Das Erdbeben von Chile“. Er arbeitet wieder mit seinem vertrauten Team (Bühne: Jonathan Mertz, Kostüme: Lene Schwind, Musik: Jonas Holle und Matze Pröllochs) und verspricht großes Theater – mit vielen Schauspielerinnen und Musikern. 

KURIER: Gratulation zu Platz drei der Top-100-Theaterabende! 

Christopher Rüping: Vielen Dank. Es ist schwierig, eine derart aufwendige Produktion wie „Dionysos Stadt“ am Leben zu erhalten. Die letzte Vorstellung war Anfang des Jahres und ich hege die Hoffnung, dass sie bald auf den Spielplan zurückkehrt.

Es fällt auf: Sie haben noch nie in Österreich inszeniert. 

Wir waren vor drei Jahren mit „Ring des Nibelungen“ zu Gast bei den Festwochen. Aber ja: In Österreich zu inszenieren, steht schon lange an! In Deutschland ist das Theater bedroht, spätestens seit Corona wird andauernd die Relevanzfrage gestellt. Das Theater hat in Wien einen ganz anderen Stellenwert: Die Menschen können sich dafür begeistern und auch darüber aufregen. Das ist super. 

Ist es wirklich so toll hierzulande?

Rauben Sie mir nicht meine Illusionen! Zumindest höre ich von meinen Kolleginnen und Kollegen, dass das Attribut Burgschauspielerin einen bei der Wohnungssuche nach vorne auf die Warteliste springen lässt. Das spricht doch für eine gewisse Wertschätzung, oder? Daran hänge ich jedenfalls meine ganze Hoffnung!

Warum haben Sie nie in Wien inszeniert? Gab es keine Angebote?

Das schon, aber für mich als Regisseur ist es wichtig, in kontinuierlichen Arbeitsbeziehungen zu arbeiten. Ich war eben Hausregisseur in München und danach in Zürich. Man macht an seinem Haus zwei Sachen in der Spielzeit, mehr geht eigentlich nicht. Zumal ich jetzt auch Vater geworden bin. Und wenn ich doch noch ein zusätzliches Projekt realisiere, dann eben mit einem Theater, mit dem ich schon eine Arbeitsbeziehung habe, zum Beispiel mit dem Thalia Theater in Hamburg oder dem Deutschen Theater in Berlin. Oder mit dem Schauspielhaus Bochum, an dem ich jetzt gerade probe. Die Möglichkeiten, neue, auch auf Kontinuität angelegte Verbindungen mit Häusern zum Beispiel in Österreich einzugehen, ist für mich begrenzt. Deswegen bin ich froh, dass „All About Earthquakes“ eine Koproduktion mit den Wiener Festwochen ist. Auch im Sinne der Nachhaltigkeit und des Austausches, den ich für wichtig erachte. 

Sie kombinieren zwei Bücher. „Das Erdbeben in Chile“ handelt von einer großen Liebe, die an ihre Grenzen stößt. Und Bell Hooks schreibt in „Alles über Liebe“, dass die echte Liebe an ihre Grenzen stößt – etwa aufgrund von Strukturen patriarchaler Natur. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Es war nicht so, dass die Festwochen einfach diese Produktionen eingekauft haben. Milo Rau sagte mir im Gespräch, dass er sich in seiner zweiten Ausgabe mit dem Thema Liebe beschäftigen will – nicht so sehr im romantischen Sinne, sondern als politische Kraft. Von der Fragestellung ausgehend, landet man dann schnell bei Bell Hooks. Sie versucht, die Liebe aus dem Bereich des Romantisch-Naiven zu lösen und in eine soziale Praxis zu überführen, die nicht nur Kommunikation, sondern auch Gesellschaft strukturieren kann. Aber wie inszeniert man Bell Hooks? Da kam mir Kleist in den Sinn: Am Anfang besteht eine Liebesbeziehung, die von der Gesellschaft nicht akzeptiert, aber durch ein Erdbeben für einen kurzen Moment möglich gemacht wird. Denn die Gesellschaft muss angesichts der Naturkatastrophe vor die Tore der Stadt Santiago flüchten, und dort entsteht ein Bell Hookscher Paradies-Zustand: Der Ständedünkel, der Argwohn, der Wille zur Dominanz, das Patriarchat, der Kapitalismus, all diese vorherrschenden Gesellschaftsprinzipien, sind außer Kraft gesetzt.

Aber schon am nächsten Tag ist alles wie gehabt …

Ja, es kommt zu einer ungeheuren Gewalt – noch dazu in der Kirche, unter dem Dach des Herrn. Mehrere Menschen werden mit Knüppeln ermordet, ein Baby wird gegen einen Kirchpfeiler geschlagen. Als müsste man diese Utopie mit aller Macht bekämpfen, mit größter Gewalt vernichten. Kleist fragt sich, worüber auch Bell Hooks nachdenkt: Was steht einer Gesellschaft der Liebe denn eigentlich im Weg? Welche unserer Instinkte, Ängste, Sorgen, Vorurteile verhindern, dass wir einen Weg finden, miteinander umzugehen, der nicht vom gegenseitigen Willen zur Dominanz geprägt ist? Es macht daher Sinn, Heinrich von Kleist durch die Brille von Bell Hooks zu betrachten – und umgekehrt.

Lassen Sie es beim tragischen Schluss? Oder stellen Sie vielleicht die Dramaturgie um?

Ich kann jetzt nicht das Ende der Inszenierung spoilern! Aber natürlich haben viel darüber nachgedacht, viel ausprobiert. Kleists Apokalypse durch ein positives Ende zu ersetzen, fühlt sich angesichts der Welt, in der wir leben, naiv an. Zynisch sogar. Wenn man Kleist genau liest, gibt es aber auch in seinem maximal gewaltvollen Ausgang zumindest eine Ambivalenz, sein letzter Satz lautet: „So war es ihm fast, als müsst er sich freuen.“ Kleist selbst sucht also nach der Katastrophe die übriggebliebenen Spuren des Paradieses: Was bleibt von der Utopie?

Bell Hooks erzählt in ihrem Buch auch viel von sich. Wird das einfließen? 

Das ist eine gängige Praxis: Man benutzt die eigene Geschichte, anhand derer die philosophischen und soziologischen Fragen verdeutlicht werden. Das macht auch Bell Hooks. Ihre politische Haltung ist daher untrennbar mit ihr als Person verbunden. Aber wir haben ja die konkrete Kleist-Erzählung, anhand derer wir die Gedanken von Bell Hooks konkretisieren können, sind also nicht auf ihre Biographie angewiesen. An der Stelle, wo Kleist vor den Toren von Santiago diesen temporären gewaltfreien Raum schafft, begegnen wir in unserer Inszenierung den Gedanken, Forderungen und Wünschen von Bell Hooks.

Ihre Inszenierung wird hoffentlich keine trockene Diskursveranstaltung?

Es geht mir darum, tiefe Gedanken erfahrbar zu machen, aber ich habe nicht vergessen, dass es ein Theaterabend ist. Man braucht kein abgeschlossenes Studium, um den Abend zu verstehen! Es ist ein lustvolles Aufeinandertreffen der beiden Texte. Und: Es gibt auch Humor! 

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