Wenn die Moral mit Füßen getreten wird

Die Topklubs wollen der Öffentlichkeit weismachen, dass man einen Beitrag im Kampf für die Gleichberechtigung leiste.
Wolfgang Winheim

Wolfgang Winheim

Tifosi mit Gerechtigkeitssinn sahen nicht zu, riefen zum TV-Boykott auf. Denn Italiens Staatssender RAI, dem ansonsten die Fußballrechte entgleiten, übertrug gestern das Liga-Pokalspiel Juventus TurinAC Milan aus dem saudi-arabischen Dschidda. Vergessen ist die Aufregung um die Ermordung des regimekritischen Journalisten Jamal Kashoggi. Verdrängt die vollmundige Ankündigung im Westen, wonach man bis zur Klärung der Rolle von Prinz Mohammed bin Salman gegenüber den Saudis auf die Distanz gehen werde.Vielmehr wollen die italienischen Topklubs der Öffentlichkeit weismachen, dass man einen Beitrag im Kampf für die Gleichberechtigung der Frau leiste. Schließlich durften bei ihrem Gastspiel in Dschidda Frauen ins Stadion. Allerdings nur in männlicher Begleitung. Und nur in einem eigens dafür vorgesehenen Sektor.

Dass auch im nächsten und übernächsten Jahr wieder von den Italienern in Dschidda je einmal um den Pokal gespielt wird; und dass dafür 21 Millionen Euro (immerhin acht Monate eines Jahresgehalts von Cristiano Ronaldo) von der Wüste nach Italien überwiesen werden, sickerte bloß inoffiziell durch.

In Wahrheit dominieren Geldgier und Heuchelei. Letztere ließe sich – ein bissel Moralkeule schwingend – auch österreichischen Oberhausklubs unterstellen. Anders als im Vorjahr, als die Wintertrainingslager in der Türkei demonstrativ abgesagt wurden, schlägt heuer fast die ganze Liga ihre Zelte im Erdoğan-Land auf. Zugegeben, die Bedingungen sind gut, die Gastgeber vor Ort freundlich wie das Wetter. Doch hat sich die politische Lage innerhalb eines Jahres so entspannt? Die Forderung der Istanbuler Staatsanwaltschaft auf Auslieferung des NBA-Stars Enes Kanter, der in den USA öffentlich Türken-Präsident Erdoğan kritisiert, lässt anderes vermuten.

Kanter droht, weil er dem Lager von Staatsfeind Gülen zugeordnet wird, in seiner Heimat Gefängnis. Dazu wird es nicht kommen. Der Basketballer darf hoffen, dass US-Behörden und Interpol den Gerichten des Sultans einen Korb geben.

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