Johannas Fest: Vom Blatt zur Wurzel

Beim Spaziergang durch den grünen Prater beobachtet die Kolumnistin Frauen bei schweißtreibendem Buddeln im Boden
Johanna Zugmann

Johanna Zugmann

Dass es ethisch vertretbarer ist, Tiere zu essen, wenn man sie ganzheitlich kulinarisch verwertet, hat sich ja schon herum gesprochen – Stichwort „from nose to tail“. Seit Jahren gibt es auch für Pflanzen einen entsprechenden Konsumtrend: Vom Blatt bis zur Wurzel (Leaf to root). Dieses Projekt hat die Journalistin Esther Kern 2014 ins Leben gerufen, die über eine reiche Sammlung von Rezepten für die Zubereitung ungewöhnlicher Gemüseteile wie Karottenkraut, Rettichblätter und Wassermelonen verfügt.

Als ich zwischen Mitte Februar und Mitte März wie üblich etwa dreimal die Woche mit unserer Felltochter Amy durch den wilden grünen Prater streifte, beobachtete ich ein höchst seltsames Treiben: Heerscharen von bäuerlich gekleideten Frauen buddelten in der Erde und füllten große Plastiksäcke mit den Objekten ihrer Begierde. Sie gruben mit kleinen Schaufeln Bärlauchwurzeln aus.

Dass sie Esther Kerns Trend studiert, aber falsch verstanden hatten, war kaum anzunehmen. Schließlich kann das Wildgemüse keine Blätter hervorbringen, wenn man seine Wurzeln ausgräbt. Weil ich regelmäßig um die 30 Sammlerinnen bei ihrem schweißtreibenden Tun beobachtete, befiel mich die Sorge, dass es in diesem Frühjahr gar keinen Bärlauch mehr im Prater zu finden geben würde.

Wurzelvernichter

Mit der Deckung des Eigenbedarfs konnte ich mir die Sammelwut nicht erklären. Schließlich hatte jede der Damen abends im Bus, der vom Lusthaus bis zum Rennweg im dritten Wiener Gemeindebezirk führt, einen ganzen Einkaufswagen voll Wurzeln im Gepäck. Irgendwann fasste ich mir ein Herz und sprach eine der Pflückerinnen an. In wessen Auftrag sie denn die Wurzeln ausbuddelte, begehrte ich zu wissen.

Die Antwort der Tschetschenin, die etwas Deutsch sprach, überzeugte mich nicht. Sie mache Suppe für sich selbst daraus. Suppe mit Milch, das schmecke köstlich. Und gesund sei dieses Gericht obendrein. Tatsächlich ist frischer Bärlauch reich an Vitamin C, das unter anderem das Immunsystem stärkt und den Körper vor freien Radikalen schützt. Das Kraut liefert außerdem die wertvollen Mineralstoffe Kalium, Magnesium und Eisen.

Und natürlich lässt sich aus dem mit Schnittlauch, Zwiebel und Knoblauch verwandten Allium-Gewächs weitaus mehr machen als bloß Suppe.

Vergangene Woche durchstreifte ich nochmals den grünen Prater und war beruhigt. Trotz der vorangegangenen Massen-Wurzelvernichtungsaktionen war noch immer reichlich Bärlauch vorhanden. Ich nahm gerade so viel davon mit nach Hause, dass es für ein herrliches Pesto und ein cremiges Bärlauch-Risotto reichte.

Nach dem Genuss des einfachen grünen Festmahls machte ich mich ans Schreibtisch-Aufräumen. Dabei fiel mir eine KURIER-Sonntagsausgabe von Ende Februar in die Hände. Unter dem Titel „Der Unaussprechliche“ schrieb sich Andreas Schwarz auf Seite 1 seine ganze Abneigung gegen das von mir so sehr geschätzte Blatt von der Seele.

Dabei zitierte der Autor auch den Schüttelreim „Lieber hunger ich mit Leerbauch, als ich ess’ etwas mit Bärlauch“ und gab seinem Unmut darüber Ausdruck, dass unsere Wälder im Frühjahr mit dem stinkenden Kraut zuwüchsen. Der Artikel endete mit einer brachialen Kampfansage: Nur ein toter Bärlauch ist ein guter Bärlauch, postulierte der führende Journalist; und dass Kapitulation keine Alternative sei. – Jetzt glaube ich zumindest zu wissen, wer der Auftraggeber der Wurzelvernichterinnen war!

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