Dein Kapital ist eine deiner Nieren
Nett gibt sich dieser Mann mit Aktentasche, fragt den 16-jährigen Elihu (überzeugend gespielt von Özge Dayan-Mair), ob er vielleicht was trinken möchte, plaudert mit ihm über Beine, Augen, Leber, Herz und Nieren. Von Letzterer haben alle Menschen wie bei Beinen und Augen zwei, würden aber auch ganz gut mit nur einer auskommen. Eine Niere sei sein Kapital, sagt der Aktentaschen-Mann Herr (süßlich-bitter Boris Popović) dem Burschen. Und damit könne er einen Flug nach England dann später bezahlen, denn schwimmen könne er ja nicht... Den Zynismus des Schleppers unterstricht dieser namenlose „feine“ noch dadurch, dass er zwar mehrmals fragt, ob der Bursch was trinken möchte, ihm die in seine Richtung gehaltene Flasche aber nie wirklich gibt.
Bei der beschriebenen Szene handelt es sich um eine aus dem Stück „ ! oder Wir sind zu viele auf diesem verdammten Boot“ des rumänischen Autors Matéï Vişniec, bearbeitet von Aslı Kişlal und dem Schauspiel-Team (siehe unten).
Heraus- statt Überforderung
„Migration ist immer mit dem Titel Überforderung und Problem behaftet“, sagte die Regisseurin im Interview mit dem Kinder-KURIER und SchauTV (der Beitrag wird am 26. November ausgestrahlt). „Politik benutzt dieses Thema, um Stimmungen zu machen. Ich denke, Migration ist eine Herausforderung und wenn man sich der nicht annimmt, dann wird es eine Überforderung. Genau damit spielt die Politik und wir sehen ja in vielen europäischen Ländern und sogar in den USA und aktuell in Brasilien, wohin sich die Gesellschaft bewegt. Es ist ein aktuelles Thema. Die nächsten 100 Jahre werden wir über dieses Thema reden. Aber aktuell ist eigentlich doch auch die Umweltkatastrophe, die wir selber erzeugen und nicht wissen, wo wir da anpacken können. Aber Migration ist das Thema Nummer 1 um Stimmungen zu machen. Deswegen war die Idee, dieses Thema eben über die Überforderung zu erzählen.“
Hat das Stück den Anspruch, diese Überforderung aufzulösen?
Erol Uensalan, einer der Schauspieler: Nein, natürlich nicht, ansonsten würden wir für die Politik arbeiten und hätten die Lösung! Ich denke nicht, dass wir schlauer sind als die Politiker. Wir versuchen nur einen weiteren Blickwinkel zu eröffnen.
Ständige Wiederholung
Aslı Kişlal: Also, wenn ich ein bisschen was preisgeben darf: Wir stellen diese Überforderung in Frage. In einer Szene, die wir reingenommen haben, kommen Auszüge aus einem „Spiegel“-Artikel von 1990 vor, vier Monate nach dem
Mauerfall. Nimm einfach nur die Worte Ostdeutsche oder DDR raus und setz stattdessen Migranten oder Flüchtlinge ein – es ist genau das Gleiche. Sie reden genauso von der sexuellen Belästigung, von jungen Männern, die in Scharen kommen, von Flut, Invasion... Sie sind überfordert mit diesen gescheiterten Existenzen.
Dadurch zeigt sich, dass die Neuen, die Fremden immer wieder benutzt werden für Panikmache. Wir stellen die Frage, ob uns nicht diese Überforderung vorgegaukelt wird.
Erol Uensalan: Die Geschichte wiederholt sich immer und immer wieder. Damit müssen wir arbeiten, dass sich Dinge wiederholen, dass es nicht per se immer nur ein Problem ist, das es zu lösen gilt, sondern einfach damit zu leben, mit dem Fakt.
Angst nehmen
Manuela Seidl, Schauspielerin und Intendantin des Theater Forum Schwechat: Es ist auch ganz wichtig, dass wir dem Publikum nicht sagen, wie es denken muss. Es darf jede und jeder denken wie er oder sie will. Das ist ja eigentlich das Ziel der demokratischen Gesellschaft. Aber wir können Denkansätze bringen, wir können zeigen, was uns aufgefallen ist. Wir wollen nicht werten, wir wollen einfach aufzeigen. Grenzen werden durch Angst erzeugt. Und Angst ist das Schlimmste was uns allen passieren kann. Diese Angst zu durchbrechen, den Leuten Angst zu nehmen ist unser Ziel.
Zynismus pur
Zurück zum Stück, für das Kinder-KURIER und SchauTV bei Proben dreier Szenen zuschauen durften. In einer weiteren treten Boris Popović und Manuela Seidl als nur wenig überzeichnetes glitzerndes Moderations-Duo einer Art TV-Verkaufs-Show auf. Sie preisen die „moderne Antimigrationstechnologie“ an, einen „Herzschlag-Detektor“, der Herzfrequenzen im Umkreis von 30 Metern sogar bei 10 cm-Panzerung erkennt, „federleicht“ ist, sich „zusammenfalten“ lässt und sogar die Situationen erkennt: „Achten Sie bitte auf die besondere Qualität der Aufnahme. Schrille Verzweiflungsschreie in allen möglichen Variationen...“
In einer anderen Szene – die wir bei den Proben nicht gesehen haben – wird ein Politiker gecoacht, Dinge einfach anders, weniger arg auszudrücken:
Coach: .. Besser: Wir werden unser humanistischen Werte nie afugeben...“
Hochrangiger Politiker: Das ist das Gegenteil von dem was ich sagen wollte.
Coach: Aber nein, das ist es nicht. Es gibt Ihnen einen notwendigen Spielraum. „Unsere“ humanistischen Werte? Herr Präsident, verstehen Sie, unsere...!?
Zynismus, wie er vielleicht nur mehr von der Realität übertroffen werden kann. ;(
Und sie landen im Wohnzimmer von Frau und Mann (Özge Dayan-Mair und Erol Uensalan) – die bewusst keine Namen haben und ohne konkrete Verortung in einem kleinen Dorf an einer der Flüchtlingsrouten leben.
Eigene Theater-Erlebnisse
Das Team hat aber auch eigene Erlebnisse und Erfahrungen eingebracht, teilweise aus dem eigenen theaterleben. So war die erste Reaktion, die Manuela Seidl auf ihre ersten verschickten Bewerbungen bekommen hat, der Anruf der Chefin einer Filmagentur: „Ich würde Ihnen empfehlen, dass Sie aufhören sich zu bewerben, da Sie mit Ihrer Riesennase ohnehin in keine Kamera passen.“
Oder Boris Popović über sein Erlebnis in einem Theater, wo alle anderen außer ihm Deutsche waren und eine Geschichte über mehrere Flüchtlinge in ihrem jeweils gefärbtem Deutsch – von Berlinerisch bis Bayrisch – spielen durften, nur er hätte seinen österreichischen Dialekt nicht sprechen sollen, weil man ihm sonst den syrischen Flüchtling nicht abnehmen würde!?
Beitrag von SchauTV
gedreht von Wolfgang Semlitsch
181126_SL_02_Migraaaanten_Mod+Beitrag.mp4
Probenfotos
Szenenfotos
Infos: Was? Wer? Wann? Wo?
Migraaaanten!
oder Wir sind zu viele auf diesem verdammten Boot
Rumänische Tragikomödie von Matéï Vişniec
Deutsche Übersetzung: Jan Cornelius
Eigenproduktion Theater Forum Schwechat, deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Aslı Kişlal
Es spielen – in verschiedenen Rollen: Özge Dayan-Mair, Boris Popović, Manuela Seidl, Erol Uensalan
Im Video: Barca Baxant
Musikalische Leitung: Uwe Felchle
Technische Leitung: Matthias Rohrbeck
Bühne: Markus Liszt
Regieassistenz: Selina Stiegler
Technische Assistenz: Reinhard Kralik
Rechte Theaterstückverlag
Wann und wo?
22. November bis 7. Dezember 2018
Theater Forum Schwechat: 2320, Ehrenbrunngasse 24
Telefon: (01) 707 82 72
www.forumschwechat.com
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