
"Fabula Rasa" von Vea Kaiser: Schein und Sein im Grand Hotel
Im vierten Roman "Fabula Rasa" von Bestsellerautorin und freizeit-Kolumnistin Vea Kaiser geht es um Glück, Gier und moralische Konflikte.
"Die Königin des Grand Hotels" lautet der Untertitel dieses Romans, den Vea Kaiser in Wien, genauer in der Welt der Schönen, Reichen und Mächtigen angelegt hat. Allerdings nicht, ohne auf das Nachtleben und den Würstelstand zu vergessen.
Eine Frau geht ihren Weg, macht Karriere in einem Wiener Traditionshotel und gerät auf die schiefe Bahn. Warum? Weil sie um das gute Leben kämpft. Inspirieren ließ sich die Autorin von einer wahren Begebenheit: Eine Buchhalterin brachte einst das Hotel Sacher um Millionen, ihre Begründung vor Gericht: "falsch verstandene Mutterliebe".
Die freizeit bringt vorab einen Auszug aus Vea Kaisers Roman:
Angelika hatte es endlich geschafft: Sie war draußen. Ingi stolperte hinter ihr über die Schwelle. Ein Stoß Winterluft schlug ihnen gegen die erhitzten Gesichter.
"Nix über eine Luftwatsche!", schrie Ingi überdreht. Sie wurde von langen Nächten in jene Stimmung versetzt, in der man ganze Stadtviertel in Brand setzen will. Angelika in jene, in der zähe Friedensverhandlungen zu einem positiven Abschluss gebracht werden. Miteinander ein Land regieren, das hätten sie nicht gekonnt, aber um im Wien der späten Achtzigerjahre beste Freundinnen zu sein, reichte es.
"Ich muss ins Bett", sagte Angelika. Die Würfeluhr zeigte vier Uhr. Wenn sie zügig gingen, könnte Angelika duschen und drei Stunden schlafen, bevor sie zur Arbeit musste. Ingi hakte sich bei ihr unter.
"Ja, aber vorher zum Würstelstand."
"Ich muss schlafen."
Ingi maulte, Angelika zog sie weiter, so wie sie es die ganze Nacht schon hätte tun sollen: "Nur noch ein Fluchtachterl! Da schau, der Branntweiner hat offen."
Niemand war mehr unterwegs. Angelika konzentrierte sich auf das Trottoir: Sie trug ihre neuen Stiefel, aber nicht einmal Hundehaufen lagen herum.
"Das hätt’ ma uns heut sparen können", murmelte Angelika und ärgerte sich über sich selbst. Im U4 war nichts los gewesen. Schlussendlich waren sie mal wieder beim Branntweiner gelandet, wo man den sauren Weißwein aus der Zwei-Liter-Flasche nur mit Zwetschkenschnaps hinunterbekam.
"Jede Erfahrung erweitert den Horizont!", murmelte die sturzbetrunkene Ingi und japste freudig, als sie um die Ecke bogen: "Da schau, da gibt’s noch Debreziner."
Am Würstelstand herrschte Hochbetrieb. Es war der letzte Donnerstag im Fasching – Opernball. Unter schwarzen Mänteln und Pelzen wischten die großen Ballroben aufgedonnerter Damen den Asphalt sauber. Sie hüllten ihre opulenten Hochsteckfrisuren in den Duft von triefenden Käsekrainern, die Herren führten ihren ordenbehangenen Brustkörben zischendes Dosenbier zu. Früher hatte Angelika den Opernball mit ihrer Mutter und den Nachbarinnen aus dem Gemeindebau im Fernsehen verfolgt. Sie bekam einen Fingerbreit Sekt in ihren Kakaobecher und durfte aufbleiben, während die Erwachsenen über die bessere Gesellschaft lästerten.
"Die Spießeria in Glanz und Gloria", murmelte Ingi, zerrte Angelika dennoch in die Schlange vor der Ausgabe. Die Crème de la Crème der Wiener Hautevolee biss herzhaft in die Würstelstandwürste, als hätte sie noch nie im Leben so etwas Köstliches gegessen. Die kleine Angelika hatte davon geträumt, als Debütantin den Opernball zu eröffnen. Doch das verschwieg die erwachsene Angelika ihrer Freundin Ingi, die Debreziner, Pfefferoni und ein Dosenbier vernichtete.
"Eat the rich", murmelte Ingi mit vollem Mund, und: "Peinliche Affen." Angelika fand: Die Umstehenden sahen ansteckend fröhlich aus, während sie das bodenständigste Essen der Stadt in der aufwendigsten Toilette des Jahres genossen. War das nicht das Leben in Reinform? Wenn man tat, was man wollte, egal, wie es aussah? War es nicht peinlicher, sich für etwas Besseres zu halten, weil man im grindigsten Branntweinlokal der Innenstadt, das seit gut zwei Jahren nicht mehr gereinigt worden war, mit Namen begrüßt wurde? Ingi hatte aufgegessen und winkte ein Taxi herbei.
"Die ganze Nacht bist mir am Oarsch gegangen, dass du heut arbeiten musst, also hoppi", Ingi sprang auf die Rückbank, "ich zahl eh."
Doch natürlich fand sie kein Geld in ihren Taschen, als der Wagen in der Talgasse hielt. Während Angelika missmutig Schillingmünzen zusammenklaubte, erbrach Ingi geräuschvoll in den Fußraum. Würstel und Pfefferoni waren noch als solche erkennbar.
"Das wird teuer", sagte der Taxler. Bis Ingi den Rest ihres Mageninhalts losgeworden war und gesäubert auf Angelikas Kanapee lag, dämmerte es. Angelika wollte duschen, aber sie war so erschöpft, dass sie sich zuerst kurz aufs Bett setzen musste. Früher hatte es ihr nichts ausgemacht, nach einer Nacht ohne Schlaf arbeiten zu gehen. Aber, wie ihr Lebensabschnittspartner Berti nicht müde wurde zu betonen: Der Dreißiger war nicht fern. (…)
Und dann wachte Angelika auf. Durch die Vorhänge blitzte die Sonne. Der Radiowecker zeigte 8:40. Angelika fluchte. Sie war in der Ausgehkleidung des Vortages eingeschlafen! Angelika hüllte sich in einen Nebel aus Deodorant und Parfüm. Ingi wackelte nicht einmal mit dem Zeh.
"Danke für nichts", rief Angelika ihr zu, ehe sie aus der Tür und zum Taxistandplatz eilte. Der Verkehr war zäh. Im Fond des nächsten Taxis schwor sich Angelika, die Kosten der gestrigen Nacht von Ingi einzutreiben – inklusive dieser Fahrt.
"Sodale", sagte der Taxler, und Angelika stellte mit Schrecken fest, dass er vor dem Haupteingang hielt und nicht auf der Rückseite, wo eine unscheinbare Holztür zum Personalumkleideraum im Souterrain führte. Der Doorman Josef öffnete die Taxitür.
"Herzlich willkommen im Grand Hotel Frohner", spulte er den in sein Blut übergegangenen Satz ab, ehe er flüsterte: "Fräulein Angelika aus der Verwaltung?"
"Ich bin zu spät", sagte Angelika, zahlte und stieg aus. Mitarbeiter durften in ziviler Kleidung nur den Personaleingang benutzen, doch den riesigen Quader zu umrunden, als welcher sich das Grand Hotel über einen ganzen Block erhob, hätte zu lange gedauert.
"Geht es Ihnen gut?", fragte Josef.
"Es ist alles in bester Ordnung", sagte Angelika und ging mit großen Schritten auf die Drehtür zu, die sie hinein in diese andere Welt brachte. Drinnen schmerzten die schlafdeprivierten Augen vom Glanz des vierzigflammigen Lobmeyr-Lusters, der über der Lobby leuchtete. Es war der verschlafene Vormittag nach einem Ball: Ein mondänes Paar öffnete seine Koffer, eine teuer gekleidete Dame wartete vor dem Concierge-Stehpult. Die Marmorfliesen glänzten frisch poliert, es roch nach Bienenwachs, mit dem der gewaltige Rezeptionstresen einmal pro Monat behandelt wurde. Die smaragdfarbenen Plüschsessel, Vorhänge, Teppiche und Uniformen der Angestellten waren makellos. Angelika meinte plötzlich, Ingis Erbrochenes an sich zu riechen. Sie dünstete Alkohol und kalten Rauch aus, das Haarspray hatte Vogelnester in ihrer Dauerwelle hinterlassen, und in ihrem Gesicht klebten Rückstände der gestrigen Schminke.
Angelika war zwar als vaterlose Hausbesorgerinnentochter aufgewachsen, sie waren immer nur gerade so über die Runden gekommen, aber was ihre Mutter ihr von klein auf beigebracht hatte, war, dass einem eine Sache nie genommen werden konnte: Stolz. Wenn man ihn nicht empfand, gab es einen Zaubertrick, und dieser hieß: Haltung. Schulterblätter nach unten, Kinn nach oben – Angelika schritt durch die Lobby, ihre Schuhe quietschten auf dem Fliesenboden. Rundherum: schöne Menschen. Reiche Menschen. Mächtige Menschen.
Angelika roch ihren eigenen Schweiß, aus ihren Poren drang das Ethanol. Um niemandes Blick zu begegnen, heftete sie ihre Augen auf das riesige Aquarium zwischen Lobby und Barbereich. Die Guppys schwammen heiter zwischen Seegras und Piratenschiff. Sobald einer mit dem Bauch nach oben trieb, rauschten Angestellte heran, um ihn zu entnehmen.
Regelmäßig kam der Guppy-Züchter mit einem Plastiksackerl vorbei, in dem frische Fische schwammen, auf dass kein Gast je merkte, dass auch im Grand Hotel Frohner die Welt im Wandel war: Hier wurde sie angehalten, hier herrschten Komfort, Glamour und Chic. Hier war alles besser, reiner, makellos. Das hatte Direktor Julius Frohner III. bei Angelikas Bewerbungsgespräch gesagt: Die Gäste im Grand Hotel Frohner suchten nicht die Auseinandersetzung mit der Realität, sondern eine Pause von derselben.
Das Geheimnis eines jeden großen Hotels war, dass hinter den Kulissen Hunderte Zahnräder reibungslos ineinandergriffen, ohne dass die Gäste etwas bemerkten, sodass sie sich willkommen fühlen und der Illusion der Perfektion hingeben konnten. Und um ihren Anteil daran beizutragen wie ein emsig umherschwimmender Guppy, tauschte Angelika in der Personalumkleide ihren Pullover gegen den smaragdgrünen Hotel-Blazer und kam atemlos, gequält von Übelkeit und Kopfschmerz, aber verzeihliche sieben Minuten zu spät in die Besprechung.
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