Vorlesetag: Wie Bücher im Kampf gegen Vorurteile nützen

Eine Mutter und ihre Tochter betrachten eine Landkarte mit einer Lupe.
Zwei Expertinnen erklären, wie Kinder durch gute Geschichten Mitgefühl lernen.

„Beim Vorlesen geht es nicht nur darum, dass sich die Sprache entwickelt. Es geht auch um den Eindruck, den ein Kind von der Welt bekommt. In den Geschichten lernt ein Kind, das Leben aus der Sicht von anderen Menschen zu sehen. Das ist Empathie“, beschreibt Psychologin Felicitas Auersperg die Wirkung von Büchern.

Diese frühen Eindrücke können ein Kind für sein Leben prägen und darüber entscheiden, ob es später offen für die Welt oder skeptisch gegenüber Menschen ist, die anders sind. „Wenn jemand erwachsen ist und voller Vorurteile gegenüber anderen Menschen, ist es fast zu spät, um ihn zu überzeugen“, so die Sozialpsychologin der Sigmund Freud Universität.

Stereotypen zu bilden, hat einen Zweck, erklärt sie: „Wir leben in einer extrem komplexen Welt. Wenn wir uns jedes Mal, wenn etwas mehrdeutig ist, lange Zeit nehmen, um darüber nachzudenken, sind wir total überfordert. Deshalb greifen wir auf unsere Erfahrungen zurück, mit Eltern, Kindergarten, Schule, Freunden. Das ist unsere Kultur und unsere Sozialisation.“

Die Bücher zeigen unterschiedliche Lebensentwürfe und Geschlechterrollen. „Sie holen die Welt ins Kinderzimmer, in der nicht alle Kinder blond sind und mit Mama und Papa zusammenleben“, erläutert Auersperg.

Das Cover des Buches „Julian ist eine Meerjungfrau“ von Jessica Love zeigt einen Jungen als Meerjungfrau.

Julian ist eine Meerjungfrau

Julian ist eine Meerjungfrau, Jessica Love, Knesebeck Verlag,
13, 90 €. 4 bis 6 Jahre

Das Cover des Buches „Familie Flickenteppich: Wir ziehen ein“ von Stefanie Taschinski mit einer Illustration von Kindern vor einem Haus.

Familie Flickenteppich

Familie Flickenteppich, Stefanie Taschinski, Anne-Kathrin Behl, Oetinger Verlag, 14,90 €. Ab 8 Jahren

Illustration des Kinderbuchcovers „Du bist mein Freund, weil…“ von Günther Jakobs.

Du bist mein Freund, weil ...

Du bist mein Freund, weil ..., Günther Jakobs, Carlsen Verlag, 15,90 €.  Ab 3 Jahre

Das Cover des Kinderbuchs „Planet Willi“ von Birte Müller zeigt eine bunte, gezeichnete Szene.

Planet Willi

Planet Willi, Birte Müller, Julius Beltz Kinderbuchverlag,
14,40 €. 4 bis 6 Jahre

Das Cover des Buches „Akissi: Auf die Katzen, fertig, los!“ von Abouet und Sapin mit einer Comiczeichnung eines Mädchens.

Akissi

Akissi (Comics-Serie), Marguerite Abouet,
Reprodukt Verlag, 18,50 €. 6 bis 8 Jahre

Das Cover des Buches „Alle bedindert!“ von Horst Klein und Monika Osberghaus mit Illustrationen von Kindern.

Alle behindert!, Horst Klein, Monika Osberghaus,  Klett Verlag,
14,90 €. 5 - 7 Jahre

Das Cover des Buches „Planet Omar: Nichts als Ärger“ von Zanib Mian mit Illustrationen im Comic-Stil.

Planet Omar - Nichts als Ärger (Serie), Zanib Mian, Loewe, 10, 30 €.  8 bis 10 Jahre

Das Cover des Buches „Wir entdecken Feste und Bräuche“ mit einer Gruppe von Kindern in Kostümen.

Wir entdecken Feste und Bräuche, Andrea Erne, Ravensburger
Verlag, 15, 90 €. 4 bis 7 Jahre

Das Cover des Buches „Königin für eine Nacht“ von Leonora Leitl mit einer Mutter und zwei Kindern.

Königin für eine Nacht, Leonora Leitl, Kunstanstifter Verlag, 20, 95 €. Ab 6 Jahren

Weite Welt

Buchhändlerin Franziska Schweizer von Pippilotta Kinderbuch beobachtet seit einigen Jahren einen Trend: „Es gibt Bücher über Kinder mit Migrationshintergrund, mit Krankheiten, mit sozialen Schwierigkeiten, adoptierte Kinder, zu allen möglichen Themen. Interessant ist, dass fast nur das Thema Scheidung inzwischen beiläufig in Geschichten vorkommt – ohne dass das extra das Thema ist.“

Derzeit wird wieder die Wirkung von Kinderbüchern diskutiert: Einige Bücher von Ikone Dr. Seuss („Der Lorax“) werden wegen Rassismus-Vorwürfen vom Markt genommen. Gerade wurde auch ein aktuelles Buch aus der Conny-Reihe zurückgezogen: Darin hieß es, das Corona-Virus habe sich von China aus in die Welt verbreitet. Das könnte die Gefühle von Lesern verletzen, reagierte der Verlag auf die Kritik – und wurde dafür selbst kritisiert. Oder über Was ist mit Michael Endes Geschichten über den dunkelhäutigen Buben Jim Knopf?

Schweizer: „Es ist ein Unterschied, ob ein Autor bewusst eine diskriminierende Weltanschauung hat oder ob es in der jeweiligen Zeit nicht als rassistisch empfunden wurde. Bei Pippi Langstrumpf hat der Verlag das Wort N...könig später auf Südseekönig geändert. Aber als sie es geschrieben hat, gab es diese Sensibilisierung nicht.“

Moderner Blick

Soll man die alten Bücher lieber gar nicht mehr lesen? „Nein, im Gegenteil!“, so Auersperg: „Kinder lernen daraus, dass es früher auch anders war – also eine historische Perspektive. Man kann einem Kind ab einem gewissen Alter eine Erklärung geben: ,Früher hat man das so genannt, aber heute wissen wir, dass das eigentlich beleidigend ist.’ Auch das schärft das Verständnis.“

Gerade die Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern in alten Geschichten entspricht nicht mehr dem modernen Bild einer selbstbewussten Frau. Die neuen schon? Fehlanzeige. Auersperg: „Ich sehe zwei widersprechende Entwicklungen. Die Bücher explizit für Buben oder Mädchen mit einer Zuspitzung von Geschlechterklischees. Und andererseits die sehr bewussten Geschichten, die diese Normen unbedingt aufbrechen wollen.“ Zumindest für die nächste Generation.

Mehr dazu im Video:

KURIER Family mit Felicitas Auersperg

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