Vorlesetag: Wie Bücher im Kampf gegen Vorurteile nützen
„Beim Vorlesen geht es nicht nur darum, dass sich die Sprache entwickelt. Es geht auch um den Eindruck, den ein Kind von der Welt bekommt. In den Geschichten lernt ein Kind, das Leben aus der Sicht von anderen Menschen zu sehen. Das ist Empathie“, beschreibt Psychologin Felicitas Auersperg die Wirkung von Büchern.
Diese frühen Eindrücke können ein Kind für sein Leben prägen und darüber entscheiden, ob es später offen für die Welt oder skeptisch gegenüber Menschen ist, die anders sind. „Wenn jemand erwachsen ist und voller Vorurteile gegenüber anderen Menschen, ist es fast zu spät, um ihn zu überzeugen“, so die Sozialpsychologin der Sigmund Freud Universität.
Stereotypen zu bilden, hat einen Zweck, erklärt sie: „Wir leben in einer extrem komplexen Welt. Wenn wir uns jedes Mal, wenn etwas mehrdeutig ist, lange Zeit nehmen, um darüber nachzudenken, sind wir total überfordert. Deshalb greifen wir auf unsere Erfahrungen zurück, mit Eltern, Kindergarten, Schule, Freunden. Das ist unsere Kultur und unsere Sozialisation.“
Die Bücher zeigen unterschiedliche Lebensentwürfe und Geschlechterrollen. „Sie holen die Welt ins Kinderzimmer, in der nicht alle Kinder blond sind und mit Mama und Papa zusammenleben“, erläutert Auersperg.
Weite Welt
Buchhändlerin Franziska Schweizer von Pippilotta Kinderbuch beobachtet seit einigen Jahren einen Trend: „Es gibt Bücher über Kinder mit Migrationshintergrund, mit Krankheiten, mit sozialen Schwierigkeiten, adoptierte Kinder, zu allen möglichen Themen. Interessant ist, dass fast nur das Thema Scheidung inzwischen beiläufig in Geschichten vorkommt – ohne dass das extra das Thema ist.“
Derzeit wird wieder die Wirkung von Kinderbüchern diskutiert: Einige Bücher von Ikone Dr. Seuss („Der Lorax“) werden wegen Rassismus-Vorwürfen vom Markt genommen. Gerade wurde auch ein aktuelles Buch aus der Conny-Reihe zurückgezogen: Darin hieß es, das Corona-Virus habe sich von China aus in die Welt verbreitet. Das könnte die Gefühle von Lesern verletzen, reagierte der Verlag auf die Kritik – und wurde dafür selbst kritisiert. Oder über Was ist mit Michael Endes Geschichten über den dunkelhäutigen Buben Jim Knopf?
Schweizer: „Es ist ein Unterschied, ob ein Autor bewusst eine diskriminierende Weltanschauung hat oder ob es in der jeweiligen Zeit nicht als rassistisch empfunden wurde. Bei Pippi Langstrumpf hat der Verlag das Wort N...könig später auf Südseekönig geändert. Aber als sie es geschrieben hat, gab es diese Sensibilisierung nicht.“
Moderner Blick
Soll man die alten Bücher lieber gar nicht mehr lesen? „Nein, im Gegenteil!“, so Auersperg: „Kinder lernen daraus, dass es früher auch anders war – also eine historische Perspektive. Man kann einem Kind ab einem gewissen Alter eine Erklärung geben: ,Früher hat man das so genannt, aber heute wissen wir, dass das eigentlich beleidigend ist.’ Auch das schärft das Verständnis.“
Gerade die Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern in alten Geschichten entspricht nicht mehr dem modernen Bild einer selbstbewussten Frau. Die neuen schon? Fehlanzeige. Auersperg: „Ich sehe zwei widersprechende Entwicklungen. Die Bücher explizit für Buben oder Mädchen mit einer Zuspitzung von Geschlechterklischees. Und andererseits die sehr bewussten Geschichten, die diese Normen unbedingt aufbrechen wollen.“ Zumindest für die nächste Generation.
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