Als Alicia Keys im Mai 2016 einen Essay für Lena Dunhams Newsletter Lenny Letter schrieb, ahnte sie nicht, dass sie mit ihren Worten eine Beauty-Revolution auslösen würde: „Ich will mich nicht mehr verstecken. Nicht mein Gesicht, nicht meinen Verstand, nicht meine Seele, nicht meine Träume, nicht meine Probleme, nicht mein emotionales Wachstum.“ Die Soulsängerin, die in ihrer Karriere mehr als 30 Millionen Platten verkauft hat, begründete darin ihren Entschluss, fortan „oben ohne“ aufzutreten – ganz ohne Make-up, und zwar nicht nur beim Selfie aus dem Schlafzimmer, sondern auch da, wo es wehtut: bei Interviews, auf roten Teppichen und den Coverbildern ihrer Musikalben.
Keys wurde zur Ikone einer neuen Natürlichkeitsbewegung – knapp 20 Millionen Fotos mit dem Hashtag #nomakeup landeten bisher auf Instagram, Superstars von Cindy Crawford bis Gwyneth Paltrow beteiligten sich medienwirksam am großen Abschminken zugunsten eines entspannteren Körperbilds. „Ohne das ganze Make-up erkannte ich mich nicht einmal mehr selbst“, resümiert Keys, Mutter zweier Söhne, nun in ihrer Autobiografie „More Myself – Mehr ich selbst“, die soeben auf Deutsch erschienen ist. Die Neo-Autorin erzählt darin von täglichen, stundenlangen Schminkprozeduren, die Hautprobleme und noch mehr Selbstzweifel zur Folge hatten.
„More Myself – Mehr ich selbst“ ist am 1. September bei Knaur HC erschienen. 352 Seiten, 20 Euro
Der Titel des Buches bezieht sich, man ahnt es, auf ihr Make-up-freies Gesicht und das Schlussmachen mit einem unrealistischen Weiblichkeitsbild, das im Showbusiness vorausgesetzt wird: „Bei jeder Performance, jedem Fotoshooting und jedem Auftritt wird weibliche Makellosigkeit erwartet“, schreibt sich die 39-Jährige ihren Frust von der Seele – der Druck, stets sexy und perfekt auszusehen, wurde so groß, dass sie beim Einkaufen jedes Mal Panik bekam, ein Paparazzi-Foto von ihr könnte „viral gehen“.
Vorreiterinnen
Im Zuge der Body-Positivity-Bewegung – die zuletzt von der Idee der „Body Neutrality“ überlagert wurde – stemmten sich in den vergangenen Jahren immer mehr prominente Frauen gegen herkömmliche Beauty-Standards und Perfektionswahn. Der Trend zeigt Früchte, so kündigte etwa die bei Jugendlichen extrem populäre Kurzvideo-App Tiktok diese Woche an, künftig Werbungen von Diätmitteln zu verbieten.
„Das Umdenken ist da, nur bin ich mir nicht sicher, ob es weitreichend genug ist“, gibt die Autorin und Aktivistin Nunu Kaller („Fuck Beauty! Warum uns der Wunsch nach makelloser Schönheit unglücklich macht und was wir dagegen tun können“, KiWi) zu bedenken. „Es ist wichtig, Beautystandards aufzubrechen – aber es darf nicht unter dem Deckmantel des Patriarchats stehen. Oft fehlt die Kommunikation, dass es nicht nur um das Begehren anderer geht.“
Alicia Keys, 39, tritt seit 2016 überwiegend ungeschminkt auf und fühlt sich endlich wie sie selbst
Wie befreiend es sein kann, wochenlang ungeschminkt zu bleiben, erlebten in diesem Jahr viele Frauen – Lockdown und Maskenpflicht machten Make-up, zumindest eine Zeit lang, überflüssig und warfen die Frage auf, für wen und warum sich Frauen überhaupt schminken. Dass Make-up-freie-Selfies in den sozialen Medien zu mehr Wohlbefinden und weniger Selbstzweifeln unter den Nutzerinnen führen, hatten Forscher der australischen Macquarie University bereits 2019 in einer Studie gezeigt.
Wahlfreiheit
Nunu Kaller warnt davor, die Bewegung zu verherrlichen: „Ich fand den Schritt von Alicia Keys damals spannend und interessant, habe danach aber die Perversion des Ganzen beobachtet: Youtube ist inzwischen voll von ,No-Make-up-Tutorials‘, wo gezeigt wird, wie man sich mit vielen Utensilien schminken kann, damit man ungeschminkt aussieht – weil man ja trotzdem ,gesund‘ aussehen muss.“
Auch Keys legt großen Wert auf einen gesunden Lebensstil, soeben hat sie ihre eigene Hautpflegeserie „Soulcare“ auf den Markt gebracht – die Haut muss also weiterhin strahlen, aber möglichst von innen. „Ich fände es schön, wenn Make-up nicht mehr als Grundlage, sich schön zu fühlen, gesehen wird, sondern als mögliche Ergänzung“, sagt Kaller.
Ihr gehe es um Selbstbestimmung, nicht um Zwang, betont Keys in ihrem Buch und räumt mit einem Missverständnis auf. Sie wolle Make-up nicht verdammen, experimentiere selber manchmal mit neuen Lippenstiften oder Lidschatten. „Der entscheidende Punkt ist, dass ich und jeder andere die Wahl haben. Und es sollte möglich sein, diese Wahl frei zu treffen, von einem Moment zum nächsten, ohne dass die ,Schönheitsnorm‘ der Gesellschaft drohend über uns schwebt.“
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