Spurensuche: Auf Zeitreise in den Gemeindebau

Ein besseres Leben im Gemeindebau – das war die Utopie des Roten Wien. Bis heute faszinieren die charakteristischen Festungen aus den 1920er- und 1930er-Jahren. Doch wie lebte es sich einst dort?
Der KURIER begab sich mit der Historikerin Lina Ehrich auf eine Zeitreise in den George-Washington-Hof in Wien-Favoriten.
Kein Bad und keine Haustiere
So viel sei gleich verraten: Luxus gab es keinen, in vielen Wohnungen nicht einmal Badezimmer. Das familiäre Leben spielte sich oft auf nur 40 Quadratmetern ab. (Und man stelle sich vor: Die Bewohner durften keinerlei Haustiere halten – heute undenkbar.)
Der markante George-Washington-Hof liegt direkt an der Triester Straße, gleich hinter der Spinnerin am Kreuz. Heute rauscht der Verkehr vorbei, doch Anfang des 20. Jahrhunderts, erzählt Ehrich, wohnten die Menschen hier in prekärsten Verhältnissen. „Denn der Wienerberg war die Gegend der armen Ziegelarbeiter.“

Historikerin Lina Ehrich bei der Führung durch den Gemeindebau.
Die rote Mehrheit
Wohl auch in der Hoffnung auf bessere Lebensumstände, stimmten viele Wähler bei der Gemeinderatswahl 1919 für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei: Mit 54,2 Prozent erreichte sie die absolute Mehrheit. „Dies haben sie genutzt, um den Bereich Wohnen zu reformieren“, erklärt Ehrich. Wobei es nicht nur um Wohnen ging, sondern auch um Bildung und Gesundheit, mit Fokus auf Familien, Frauen und Kinder.
Sichtbare Spuren der Politik
Spuren dieser Politik sind bis heute sichtbar, etwa in Form einer Terrakotta-Figur am George-Washington-Hof – eine Frau, die zwei Kinder auf dem Arm hält. „Hier war eine Mutterberatungsstelle untergebracht“, erklärt Ehrich. Dort bot man gynäkologische Untersuchungen an, auch Krankheiten wie Syphilis wurden diagnostiziert und so eingedämmt. „Was damals revolutionär war“, betont die Historikerin.

An der Fassade des George-Washington-Hofs erinnert eine Statue noch an die Mutterberatungsstelle.
Da Wien zu jener Zeit im Bereich Wohnen so fortschrittlich unterwegs war, fand in der Stadt 1926 ein internationaler Wohnkongress statt. „Man war ja richtig, richtig stolz darauf, was man erreicht hatte“, so Ehrich. Tatsächlich erntete Wien aber auch Kritik: International wurden damals nämlich eher Gartenstädte gebaut, also Reihenhäuser mit viel Grün – siehe Holland oder Berlin. In Wien hingegen dominierte blockartiges, kollektives Wohnen.
Die grüne Antwort
Der George-Washington-Hof mit seinen zahlreichen Grünflächen, erbaut von 1927 bis 1930, war die direkte Antwort auf diese Kritik. Tatsächlich eröffnen sich hinter der grauen Triester Straße fünf große, grüne Innenhöfe. „Das Motto war: Luft – Licht – Sonne“, erklärt Ehrich. Jedes Zimmer hatte zumindest ein Fenster, jede Wohnung eine Loggia oder einen Balkon, und die Luft musste zirkulieren können.
In den Innenhöfen gab es einst übrigens 42 Geschäftslokale und eine Arbeiterbücherei – auch Bildung sollte ja für alle zugänglich sein. „Aber viele Geschäfte sind abgewandert, wie überall sonst auch“, erzählt Ehrich. Heute gibt es etwa eine Trafik, einen Tierarzt und einen Pensionistenklub. Erhalten geblieben sind die Spielplätze und ein Kindergarten.
Das „Rote Wien“
Das war die Zeit von 1919 bis 1934. Sie war geprägt von Reformen in den Bereichen Wohnbau, Gesundheit, Bildung
400 Gemeindebauten
wurden damals circa erbaut. Heute gibt es um die 1.800
Ein Museum mit „Außendienst“
Das Museum „Das Rote Wien im Waschsalon“ im Karl-Marx-Hof widmet sich dem Thema Gemeindebau. Gegründet wurde es 2010 von Lilli und Werner T. Bauer. Das Museum führte auch den sogenannten „Außendienst“ ein: Experten wie Lina Ehrich bieten Stadtspaziergänge zum Thema Gemeindebau
Termine
6. April: George-Washington-Hof
4. Mai: „Rund um den Herderhof“
1. Juni: „Ringstraße des Proletariats in Margareten“
Jeweils ab 11 Uhr, 12–15 Euro.
Alle Infos: dasrotewien-waschsalon.at
Kritik der Frauen
„Die Debatte über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gab es schon im Roten Wien“, erklärt Ehrich. Einst hatte der Kindergarten von 7 bis 18 Uhr geöffnet – sechs Tage die Woche. „Und die Kinder bekamen dort zu essen. Während der Krise von 1929 war das eine extreme Entlastung für viele Familien.“
Da viele Wohnungen noch kein Badezimmer hatten, gab es Waschsalons, in denen man (gegen Gebühr) Duschen sowie einmal pro Monat (kostenlos) Wäsche waschen konnte. Ein Fortschritt bezüglich Hygiene, so wurde die Tuberkulose eingedämmt. Kein Fortschritt, was Emanzipation betraf: Nur Frauen durften die Waschküche betreten. „Schon damals ein Kritikpunkt der Frauen in der Sozialdemokratie“, so Ehrich.
Ebenso waren Frauen bei der Vergabe der Gemeindewohnungen benachteiligt: Anspruch hatte, wer in prekären Verhältnissen lebte und Österreicher war. „Ehepaare mit Kindern oder Kriegsinvaliden hatten gute Chancen. Als alleinstehende Frau hingegen bekam man kaum eine Wohnung“, beschreibt die Historikerin.
Der George-Washington-Hof ist übrigens einer von rund 400 Gemeindebauten, die zur Zeit des Roten Wien entstanden. Trotz aller Kritik waren sie fraglos für viele Menschen ein Ausweg aus einem Leben in den Elendsquartieren.
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