Wie die Integration isolierter Frauen gelingen kann

In Ottakring (im Bild der Brunnenmarkt) haben auch die „Nachbarinnen“ ihren Sitz.
Frauen, die abgeschottet von Österreichern leben und nicht Deutsch lernen sollen. Die von ihren Männern abhängig sind oder auch Gewalt erleben. Die sich um Kinder und Schwiegereltern kümmern, aber keinen eigenen Beruf ausüben.
17 Jahre lang entsprach das Leben von Hayat M. ziemlich genau diesem Klischee. Doch seit drei Jahren tut es das nicht mehr: Mithilfe der NGO „Nachbarinnen“ gelang es ihr, sich Schritt für Schritt zu emanzipieren. Ein Beispiel, das zeigt, wie Integration in der Praxis funktionieren kann.
Der KURIER sprach mit der 38-jährigen Hayat M., wie es zu den Veränderungen in ihrem Leben kam – um ihre Privatsphäre zu wahren, wurde ihr Name geändert.
Hayat M. war 18 Jahre alt, als sie von der Türkei nach Wien zog, um hier mit ihrem Ehemann und ihren Schwiegereltern zu leben. „Ja, es war sehr schwierig“, sagt sie. Österreicher kannte sie keine, die Sprache beherrschte sie kaum. Wenn sie zum Arzt oder auf ein Amt gehen musste, war sie auf ihren Mann angewiesen: „Da ich nicht gut Deutsch konnte, habe ich gemeinsam mit ihm dorthin gehen müssen.“
Gewalt überschattete ihre Beziehung
Das Paar bekam drei Kinder. Hayat M. kümmerte sich um sie und hatte Jobs als Reinigungskraft. Doch dann wurde Gewalt Thema in ihrer Beziehung.
Hier kamen die „Nachbarinnen“ ins Spiel: Die Sozialorganisation (siehe unten) hilft gezielt Frauen, die isoliert von der Gesellschaft leben oder unter Gewalt leiden, um sich zu emanzipieren und zu integrieren.
Sozialassistentinnen, die selbst Migrantinnen sind und die die Muttersprache der Frauen sprechen, begleiten sie dabei.
"Familien wollen nicht, dass Frauen zu selbstständig werden"
Eine Sozialarbeiterin vermittelte Hayat M. den Kontakt zu Firdes Acar von den „Nachbarinnen“. Acar kennt die Nöte der Frauen: Als sie nach Wien kam, war sie 14 Jahre alt und schwanger. Sie musste familiäre Widerstände überwinden, um Deutsch zu lernen und arbeiten zu dürfen. „Viele Familien wollen nicht, dass die Frauen zu selbstständig werden. Ihnen ist es lieber, sie sind nur Reinigungskraft und werden nicht zu selbstbewusst“, sagt Acar.
Die "Nachbarinnen" bauen Vertrauen auf
Acar besucht die Frauen zu Hause und baut Vertrauen auf – die Betreuung geht über Monate. „Oft sprechen die Frauen nicht gleich über alle Probleme. Das braucht Zeit“, weiß Acar. Man eruiere, wo Unterstützung nötig sei. Dank der Ermutigung und der rechtlichen Beratung der „Nachbarinnen“ gewann Hayat M. neues Selbstbewusstsein. Sie suchte Hilfe bei einer Beratungsstelle, erwirkte eine Wegweisung und drohte mit der Scheidung. Seitdem, erzählt sie, habe sich ihr Mann verändert, er sei nicht mehr gewalttätig.
Die Kinder hatten Probleme in der Schule
Dann tat sich ein weiteres Problem auf: Die beiden älteren Kinder, die ein Gymnasium besuchten, hatten Probleme in der Schule. „Ich konnte nicht gut genug Deutsch, um mit den Lehrern darüber zu sprechen. Und ich habe auch das Gefühl gehabt, sie lehnen mich ab“, erzählt M. Gleichzeitig reifte in ihr selbst der Wunsch, einen besseren Job zu finden und selbstständiger zu werden.
Firdes Acar half M. dabei, eine Lernhilfe für die Kinder zu organisieren. Gleichzeitig motivierte Acar Hayat M., den Pflichtschulabschluss nachzuholen und Deutsch zu lernen.

Christine Scholten (li.) und Firdes Acar im Gespräch mit dem KURIER nahe des Brunnenmarkts in Wien.
Gegründet wurden die „Nachbarinnen“ 2013 von der Ärztin Christine Scholten und der Sozialarbeiterin Renate Schnee. Scholten arbeitete lange als Kardiologin in Favoriten, einem Bezirk mit hohem Migrantenanteil. Ihre Erfahrungen bewogen sie, sich für Migrantinnen einzusetzen.
„Wir nehmen uns jener Frauen an, die selbstständiger werden wollen“, so Scholten. Es gehe darum, soziale Schieflagen zu erkennen, die Frauen zu stärken und zu motivieren, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Dabei begleiten die elf Sozialassistentinnen der „Nachbarinnen“, die selbst Migrantinnen sind: Sie sprechen Türkisch, Arabisch, Dari/Farsi, Tschetschenisch und Somali. Sie begleiten zum Amt oder zum Arzt und beraten zu vielerlei Themen: etwa Frauenrechte, Erziehung, Ausbildung, Gesundheit oder Beruf.
400 Frauen und deren Familien werden pro Jahr begleitet. Ein Prozess, der arbeitsintensiv sei, sich aber auszahle, so Scholten: „Eine Familie zu begleiten, kostet rund 2.500 Euro. Die Nicht-Integration einer Person in die Gesellschaft kommt uns weit teurer.“
Finanziert wird die NGO zur Hälfte aus Spenden, zur Hälfte aus öffentlicher Hand sowie durch Einkünfte der eigenen Nähwerkstatt. Die „Nachbarinnen“ wurden vielfach ausgezeichnet: zuletzt mit dem Vienna-Diversity-Award, dem Ute-Bock-Preis und dem Minerva-Award.
Seit drei Jahren ist Hayat M. nun schon mit den „Nachbarinnen“ in Kontakt. Ob sich ihr Leben verändert hat? „Sehr“, erwidert die 38-Jährige und lacht. Sie spricht mittlerweile sehr gut Deutsch und fühlt sich viel selbstsicherer: „Ich kann jetzt mit den Lehrern meiner Kinder sprechen oder alleine zum Arzt gehen.“ So sei sie auch ein Vorbild für ihre Kinder, fügt sie hinzu. Ihr nächstes Ziel? Eine Ausbildung zur Laborassistentin zu machen.
Auch Firdes Acar freut sich sehr über die Fortschritte ihrer Klientin: „So ein Erfolgserlebnis motiviert mich sehr in meinem Beruf.“
Kommentare