Pandemie und Pop-up: Eine Analyse zur Wiener Gemeinderatswahl
In Wien haben um 7.00 Uhr die knapp 1.500 Wahllokale ihre Pforten geöffnet. Insgesamt rund 1,36 Mio. Wienerinnen und Wiener sind aufgerufen, einen neuen Gemeinderat bzw. Landtag sowie die Bezirksvertretungen zu wählen. Gewählt werden kann bis 17.00 Uhr. So lange haben alle Wahllokale geöffnet. Viele Stadtbewohner haben jedoch bereits abgestimmt.
Wer in Wien am heutigen Sonntag den Gang zum Wahllokal antritt, der benötigt nicht nur einen Ausweis und seinen Mund-Nasen-Schutz – sondern sollte tunlichst auch einen eigenen Kugelschreiber mitnehmen. Die Corona-Krise fordert ihren Tribut.
Rekord an Wahlkarten
Die Zahl der Wahllokale wurde massiv erhöht, insgesamt 1.494 sind für die Wienerinnen und Wiener heute geöffnet. Der Andrang dürfte zugleich so gering wie lange nicht sein. Das Virus könnte viele davon abhalten, überhaupt zu wählen. Wieder andere werden per Briefwahl abstimmen. 382.214 Wahlkarten wurden ausgestellt. Das sind fast doppelt so viele wie 2015, ein neuer Rekord.
Die Auswirkungen werden nicht zuletzt am Abend spürbar: Die Wahlkarten sind am Sonntag noch nicht ausgezählt, somit dürften bis zu 40 Prozent aller Stimmen nicht im vorläufigen Endergebnis enthalten sein. Viele Kandidaten (allen voran in den 23 Bezirken, in denen zeitgleich die Vorsteher gewählt werden) müssen wohl bis Dienstag zittern.
Belastbare Aussagen über den genauen Wahlausgang sind am Sonntag somit – eigentlich – nicht möglich. Eigentlich. Und zugleich auch wieder schon: Denn wie die Wien-Wahl ausgeht, das steht eigentlich in den Grundzügen schon lange fest.
Viele Sieger, ein Verlierer
Der Sieg gehört der regierenden SPÖ rund um den Bürgermeister Michael Ludwig. Es ist seine erste Wahl in dieser Position – und er wird das letzte Ergebnis von Kult-Vorgänger Michael Häupl übertreffen. Auch das ist eine Besonderheit. Ludwig positionierte sich als Krisenmanager und dürfte diese Zuschreibung trotz steigender Corona-Zahlen und anhaltendem Test-Chaos knapp über die Ziellinie retten.
Der zweite große Sieger könnte die ÖVP unter Finanzminister Gernot Blümel werden – wenn es gelingt, Erwartungshaltung und Ergebnis in Deckung zu bringen. Die Türkisen starten von einem nie da gewesenen Tiefstand. Alles unter einer Verdoppelung der Prozentpunkte – auf zumindest 18 Prozent – wäre eine Niederlage. Dass man sich in der Partei bemüht, die Erwartungen niedrig zu halten, ändert daran nichts.
Mit Zugewinnen rechnen auch die Grünen. Wie hoch diese ausfallen, das zählt zu den wenigen Überraschungen, die bleiben: Spitzenkandidatin Birgit Hebein fährt einen polarisierenden, auf linke Kernwähler zugeschnittenen Kurs – und hadert zugleich mit der türkis-grünen Zusammenarbeit im Bund.
Der große Verlierer steht ebenfalls fest – die FPÖ dürfte nach Ibiza und Spesenaffäre bis zu zwei Drittel an Prozentpunkten (2015 erreichte sie 30,8 Prozent) verlieren. Die ÖVP, die einen „anständigen“ Mitte-Rechts-Kurs fährt, fischt im blauen Teich.
Die Neos (mit grün angehauchtem Programm) werden zwischen den Parteien aufgerieben – und hoffen, dass sich nach der Wahl rechnerisch eine Zusammenarbeit mit der SPÖ ausgeht. Dann könnte ihnen im Koalitionspoker plötzlich Bedeutung zukommen.
Die große Unbekannte geht von einem sattsam Bekannten aus: Heinz-Christian Strache tritt mit seiner neuen Liste an. In allen Umfragen liegt er knapp an jener 5-Prozent-Marke, die alle überspringen müssen, die in den Gemeinderat einziehen wollen. Prognosen sind für Meinungsforscher bei Strache schwierig. Die „Verschweigequote“ ist bei seinen Anhängern in Umfragen besonders hoch.
Von Corona geprägt ist aber nicht nur der Wahltag, der gesamte Wahlkampf war es.
Wahlfeiern
Selten waren die Parteien den Wählern so fern wie diesmal. Große Veranstaltungen wurden nicht geplant – oder mussten abgesagt werden. (Zuletzt am Freitag das Wahlkampffinale der Grünen, die einen Corona-Fall im Team haben.) Selbst das Donauinselfest, die Mutter aller SPÖ-Veranstaltungen, konnte nicht in gewohnter Form über die Bühne gehen. Die Wahlkämpfer setzten auf kleine Grätzel-Veranstaltungen und Verteilaktionen. Mit Mund-Nasen-Schutz und Handschuhen fällt Bürgerkontakt dennoch schwer. Leichter hatten es da FPÖ und Strache, die – an der Grenze zur Corona-Leugnung – ihre Wähler versammelten, als wäre nichts gewesen. (Der Andrang war spärlich. Unklar, ob es nur an Corona lag.)
Inhaltlich drängte das Virus alle anderen potenziellen Themen beiseite, vor allem die echten. Dafür versuchten die Parteien, aus Corona Profit zu schlagen. Die grüne Vizebürgermeisterin Hebein baute die Stadt unter dem Corona-Deckmantel im Pop-up-Verfahren um: Radwege, Begegnungszonen, als Höhepunkt ein Pool inmitten einer der meistbefahrenen Straße der Stadt. Die anderen Parteien spielten mit.
Gewählt wird nicht nur der Gemeinderat. Bei den 23 Bezirksvertretungswahlen entscheidet sich, wer den Bezirken künftig vorsteht. Das Amt geht automatisch an den Stimmenstärksten
1,1 Millionen Wähler
1.133.010 Personen sind bei der Gemeinderatswahl stimmberechtigt, davon sind 597.027 Frauen. Bei den Bezirksvertretungswahlen sind es 1.362.789 Personen. Hier dürfen auch EU-Bürger mit Wohnsitz ihre Stimme abgeben
500.000 ohne Stimme
Rund eine halbe Million Menschen im wahlfähigen Alter dürfen nicht den Gemeinderat wählen, weil sie aus dem Ausland sind. In manchen Grätzeln liegt der Wert bei 50 Prozent. Mehr als sonst irgendwo in Österreich
19 Parteien
19 Parteien kandidieren in Wien. 12 davon für den Gemeinderat, die anderen für die Bezirksvertretung. Wien-weit stehen neben den großen Parteien (siehe rechts) auch Links, die Migranten-Partei SÖZ und die Bier-Partei auf dem Wahlzettel
Neues Wahlrecht
Erstmals wird nach neuem Wahlrecht gewählt, das (salopp gesagt) dafür sorgt, dass große Parteien bei der Mandatsverteilung nicht mehr so stark bevorzugt werden wie früher. Eine Mandatsmehrheit im Gemeinderat könnte sich für die SPÖ übrigens ab 46,5 Prozent ausgehen
SPÖ und ÖVP lieferten sich einen Schlagabtausch über die Corona-Maßnahmen, wobei die Parteichefs die Arbeit durchaus anderen überließen. Wenn es schmutzig wurde, schickte die ÖVP Innenminister Karl Nehammer, Ludwig ließ Gesundheitsstadtrat Peter Hacker in den Ring. (Bis es ihm letztlich zu viel wurde.) Der Bürgermeister selbst verkündete lieber Taxi- und Gastro-Gutscheine. Und zwar gerne an der Seite des (türkisen) Wirtschaftskammer-Präsidenten, der damit die eigenen Partei vortrefflich provoziert(e). Einzig der ÖVP gelang es letztlich, mit der Integrationsdebatte – Deutsch im Gemeindebau! – einen Punkt abseits von Corona zu machen.
Ein Zuwanderer schaffte es übrigens noch in die Medien: Heinz-Christian Strache bestimmte mit der Debatte über seinen Wohnsitz einige Zeit lang das Geschehen. Fazit: Er lebt amtlich bestätigt nicht in Klosterneuburg, sondern in Wien und darf daher antreten.
Stimmlos
Nicht nur nicht antreten, sondern bei der Gemeinderatswahl nicht wählen dürfen übrigens ein Drittel aller erwachsenen Wiener – eine halbe Million Menschen. Sie sind keine österreichischen Staatsbürger. „Demokratiegefährdend“ nennen das Experten.
Wie es nach der Wahl weitergeht? Die SPÖ regiert und kann entscheiden, ob mit Grünen, ÖVP oder Neos. Alle drei bekunden Interesse. Der rote Bürgermeister hat freie Wahl. Zumindest in dieser Hinsicht ist Wien dann alles wieder ein bisschen so wie immer.
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