Mit Herz und Hirn genießen im Wiener Gasthaus Wolf

Mit Herz und Hirn genießen im Wiener Gasthaus Wolf
Interessant essen, gut trinken und ein bisserl schöner wohnen – im Gasthaus Wolf, wo sogar die alten Möbel noch Biss haben.

Tschocherl, (Substantiv) das – Wienerisch, teils abwertend: kleines, nicht besonders nobles, aber oft gemütliches Lokal. „Und was für a Tschocherl!“ Daniela Huber bemüht den im Wörterbuch der Gegenwartssprache erklärten Ausdruck für das, was auf einer Immobilienplattform zum Verkauf angeboten und am 15. Dezember 2011 unter dem Namen „Gasthaus Wolf“ eröffnet wurde. Es war der Geburtstag eines Prachtwirtshauses, praktisch die vollendete Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling. Das Tschocherl ist zum Wirtshausjuwel geschliffen worden.

Daniela Huber und Wolfgang Wöhrnschimmel sitzen am Stammtisch ihres Lokals; es ist noch Ruhe vor dem Sturm, aber bald nach 18 Uhr wird der prachtvolle Schankraum mit Leben erfüllt sein. Der Name Wolf rührt vom Mitbegründer her: Jürgen Wolf hatte zuvor die Kantine im Funkhaus Argentinierstraße geschupft, was ihn einigermaßen unterfordert haben dürfte.

Mit dem Ehepaar Huber-Wöhrnschimmel wagte er die Gasthausgründung. Wolf war in Wien, was Max Stiegl im Burgenland war und ist: der Mann, der alles kocht. Und auch kochen kann. 

Herz, Hirn und Zunge

Das Rahmherz vom Kalb wurde schnell zu einem Klassiker im Wolf, das gebackene Hirn und die lauwarm marinierte Zunge ebenso. Und als eines Tages der Kabarettist und Autor Thomas Maurer nach einer Reportage über einen Hühnerschlachtbetrieb beim Wolf in die Küche marschierte, stellte er dem Koch ein Packerl Hahnenhoden auf den Tisch, die er mitbekommen hatte. Wolf packte die bohnengroßen Organe mit dem Geschmack von Bries in Filoteig, frittierte sie knusprig und schrieb Hahnenhodensackerl auf die Karte.

Innere Werte

2020, zufällig ein paar Wochen vor dem ersten Lockdown der Covid-Pandemie, verlor Jürgen Wolf den Bock auf Stadt und versorgt seither das Weinviertel und den Retzer Genussmarkt mit erlesenen Gourmandisen. Daniela Huber übernahm die Küche. Sie hatte zuvor schon öfter ausgeholfen und nebenher eine Kochlehre gemacht. Der Wolf’schen Doktrin von den inneren Werten ist auch sie treu geblieben, ob mit Milzschnitten vom Lamm oder Kalbshirn mit Krauser Glucke – das ist dieser vorzügliche schwammähnliche Speisepilz.

Mit Herz und Hirn genießen im Wiener Gasthaus Wolf

Das Butterschnitzel bekommt „Farb- und Geschmackstupfer“ in Gestalt von Fisolen.

Wolfgang Wöhrnschimmel musste sich ab 2020 nicht verändern; er war vorher schon der Mann im Gastraum und zugleich Hüter über ein bemerkenswertes Weinangebot. Was das Gasthaus Wolf aber neben der Küche ausmacht, ist diese beinahe schon ergreifende Stimmigkeit und Balance zwischen Interieur und Atmosphäre. „Wir haben sogar Richtung echtes Wirtshaus rückgebaut und Sachen wie die schrecklichen Sitzkojen aus hellem Holz rausgeschmissen“, erzählt Wolfgang Wöhrnschimmel. Und wer genau schaut, sieht da und dort noch Überreste früherer Tschocherlzeiten – etwa an der Decke die Befestigungen der alten Gasbeleuchtung. Oder oben auf der bordeauxroten Schank die Klappen für die Eisklötze, die von der Rax angeliefert wurden, weil eh schon wissen: Gaslicht, aber kein Strom damals.

Auch die restliche Einrichtung haben die Wirtsleute mit Bedacht, Geduld und Leidenschaft zusammengetragen. Der riesige Madonnenschinken über dem Stammtisch hing einst in einem anderen Beisl, und die Tischplatte des Stammtisches war in ihrem früheren Leben die Kühlschranktür des legendären Gasthauses Pontoni in Margareten. Ob die alten Möbel wohl nach der Sperrstunde miteinander darüber plaudern, wie es früher woanders war? Es gibt zumindest einen Gegenstand, bei dessen Anblick man gerne mehr wüsste: ein ziemlich patinierter Gasthaussessel aus Niederösterreich, in dessen hölzerner Rückenlehne deutliche Abdrücke eines menschlichen Bisses zu sehen sind. „Die G’schicht“, sagt Daniela Huber, „tät mich wirklich interessieren.“

Der Weltenlauf im Wolf

In diesem Ambiente verkehrt von Montag bis Freitag jeden Abend ein Volk, das Daniela Huber und Wolfgang Wöhrnschimmel immer wieder fasziniert und überrascht. Wie drehen sich die winzigen Rädchen des Weltenlaufes im Gasthaus Wolf? Warum passiert wann was und wieso am Montag und am Mittwoch nicht? „Es gibt zum Beispiel Abende, da kamen nur Gäste, die sich kennen, aber an ganz anderen Tischen sitzen.“ Das sind die, an denen die Spieltheoretiker ins Grübeln geraten: Wenn Gast A hereinkommt und B, C und D begrüßt, wie stehen dann B und C zueinander?

Und es gibt den Donnerstag, an dem immer der ehemalige Politiker da ist, weil ihn die Reinigungskraft wegschickt, damit er daheim nicht im Weg herumsteht. „So ein Gasthaus ist wirklich ein Mysterium“, sinniert Wolfgang Wöhrnschimmel. Und kurz bevor sie in die Küche geht, um die grandios flaumigen Kalbsbutterschnitzel in die Pfanne zu legen und er den Roten lüftet, sehen sie einander an und denken: Was wird der Abend wohl heute bringen in diesem … wie sagen sie beide so gern… öffentlichen Wohnzimmer im Grätzel?

Am nächsten Sonntag lesen Sie: Schneyder im Ziegelwerk

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