Die Grätzelwirtin von Wien-Margareten

Es ist kurz vor halb zwölf, aus der Küche ist Topfgeklapper und Brutzeln zu hören, und Marion Jambor rückt da und dort auf den blütenweiß gedeckten Tischen kitschig bunte Porzellantiere zurecht. Dann nickt beim Eingang plötzlich die Türklinke, schnalzt hoch, nickt noch einmal. Kurze Pause. Es klopft. Marion Jambor ruft „Jessas, zuag’sperrt!“, stürzt zur Tür und dreht den Schlüssel um. Drei Gäste treten ein und nehmen an verschiedenen Tischen Platz. „Is eh erst elfuhrdreissig und zwei Sekunden“, sagt sie mit ironisch-entschuldigendem Ton. Tja, Stammgäste stehen eben nicht gerne vor verschlossenen Türen.
So beginnt das Mittagsgeschäft im Gasthaus Woracziczky in Wien-Margareten. Jambor aber ist schon sehr lange wach. In der Früh war sie, wie so oft, auf dem Leopoldsberg. „Ich brauch den Wald zum Pflanzen und Tiere schauen“, sagt sie. „Heute in der Früh hab’ ich einen Feuersalamander gesehen.“ Jetzt kann sie, vollgetankt mit frischer Luft und gut gelüfteter Seele, bis 23 Uhr Wirtin sein. Fehlstunden zu Öffnungszeiten: null. „Wenn offen ist, bin ich da“, sagt sie. „Ich habe keine Vertretung.“
Unaussprechlich und gut
Marion Jambor entstammt altem Wiener-Gastro-Adel. Sie hat ab 1991 mit ihrem damaligen Lebenspartner Lukas Mraz das kurz zuvor gegründete Restaurant in der alles andere als gentrifizierten Brigittenau aufgebaut und danach den noblen Laden Palais Coburg mit Küchenchef Christian Petz gemanagt. Dann wollte sich ihr Lebensgefährte zu dieser Zeit gastronomisch selbstständig machen. In der Nachfolgebörse der Wirtschaftskammer fanden die beiden 2009, also vor mittlerweile 16 Jahren, ein ziemlich abgewohntes südamerikanisches Lokal namens Victor, aus dessen Leumund eine recht strenge Fahne wehte.

Die knusprig-flaumigen faschierten Laberl gibt es hier mit Bratkartoffelwürfeln und hausgemachter Cocktailsauce.
Jetzt ist die Lamperie in zartem Hellgrau gestrichen, das Ambiente hell und schnörkellos, die hölzerne Schankbudel ein antiquarisches Prunkstück. „Manchmal fragen mich Gäste, wer das alles designt hat. Dann muss ich immer laut lachen. Offenbar habe ich aber den Zeitgeist ganz gut getroffen. Weil heute freuen sich die Jungen und die Alten über die alten Sachen.“ Und wenn dann, wie während der Pandemie, ihr Sohn Lukas „Luki“ Mraz, der eine steile Kochkarriere hingelegt hat, aushilft und andere jugendkompatible Dinge über die Gasse verkauft, schadet das dem Generationenvertrag im Gasthaus Woracziczky auch nicht.
Da ist es kein Widerspruch, dass der Name des Gasthauses mit den vielen jungen Gästen einigermaßen geschichtsträchtig ist; und auch ähnlich unaussprechlich wie die legendären Aufstrichbrötler der Dynastie Trześniewski. Auf ihrer Homepage beschwichtigt Marion Jambor allerdings: „Sprich: Woraschitzky“ steht dort. Na bitte, halb so zungenbrecherisch wie befürchtet, so heißt in Wien bald einmal wer. Das Wort ist den Lokalgründern 2009 „einfach eingefallen“, erzählt Marion. So hieß ein altes polnisches Adelsgeschlecht, das in der Südsteiermark Weinbau betrieb. Heute holen namhafte steirische Weingüter wie Sabathi das Beste aus der Riede Graf Woracziczky bei Leutschach.
Wo?
Spengergasse 52, 1050 Wien,
Tel.: 0 699/112 29 530, www.woracziczky.at.
Wann?
Mo bis Fr
11.30 bis 14 Uhr und ab 18 bis ca. 23 Uhr.
Was & wie viel?
Die Mittagsmenüs mit Suppe und Hauptgericht (überbackene Palatschinken, Bärlauch-Eiernockerl, geröstete Knödel mit Ei, gebackener Kabeljau) sind mit 9,50 Euro beinahe konkurrenzlos günstig. Die Abendkarte wechselt etwa alle vier Wochen. Es gibt vorweg Beef Tatar (15,50) oder marinierte Kalbszunge mit Kohlrabi und Radieschen (14,50), die Hauptgerichte kosten zwischen 14, 50 und 19,50 Euro. Nur Barzahlung möglich.
Warum?
Wirtin Marion Jambor liefert die Erklärung: „Ein Gasthaus ist etwas, wo man sich reintraut. Auch allein.“
Ergänzung: man wird es dort nicht lange bleiben und eine angenehme Zeit verbringen.
Die nicht sehr umfangreiche, aber mit Bedacht erstellte Weinauswahl wird dem nicht im Weg stehen.
Bonus: ruhiger Schanigarten in einer Sackgasse.
Die soziale Ader
Mittlerweile ist das Gasthaus bestens besucht, und Küchenchef Martin Buzernic, finalisiert einen Mittagsteller nach dem anderen – routiniert und in gleichbleibend hoher Qualität; er ist ja auch schon 15 Jahre lang hier, weil er einfach von sich aus so kocht, wie Marion Jambor es am liebsten hat: klassisch, frei von Firlefanz, aber voller Feingefühl für solide Hausmannskost. Zum Woraczicky’schen Kanon zählen Backhendl, Zwiebelrostbraten, Beef Tatar, vegetarisch gefüllte Paprika, der Referenzbeinschinken aus dem Haus Thum oder der cremige Schokoauflauf.
Bei maximal zwanzig Euro liegt für Marion Jambor die Latte bei den Hauptgerichten; und weil sie als aufmerksame Grätzelwirtin natürlich auch weiß, wem es in der Nachbarschaft nicht so gut geht, „müssen die, die sich’s nicht leisten können, halt nix zahlen“. Es macht ihr überhaupt Freude, das Beisl auch als soziale Plattform zu betrachten. Mehrmals im Jahr regt sie ihr Publikum zu Sachspenden an. Die verteilt sie dann an Neunerhaus, Caritas oder den Verein Ute Bock.
Besonders gut funktioniert das, wenn man auch ein Gespür für die Leute hat. „Wenn wir einmal besonders voll sind, weiß ich genau, wen ich zu wem an den Tisch setzen kann. So entstehen dann lange Gespräche. Und Wochen später kommen die, die ich zusammengespannt habe, plötzlich alle wieder, aber diesmal verabredet. Das find’ ich schon sehr geil.“
Am nächsten Sonntag lesen Sie:
Schneyder im Gasthaus Fuchs
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