Über 130 Tote: 2.500 Polizisten stürmten Elendsviertel in Rio de Janeiro

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Stundenlange Gefechte, aus Drohnen abgeworfene Sprengsätze, Zivilisten im Kreuzfeuer: Am Dienstag erlebte Rio de Janeiro den tödlichsten Polizeieinsatz seiner Geschichte. Bewohner tragen die Leichen zusammen.

Schwarze Rauchwolken stiegen über den Dächern der Favelas auf. Brennende Busse blockierten die Straßen. Schüsse prasselten durch die engen Gassen - teils mehr als 200 pro Minute. Am Dienstag war Rio de Janeiro im Ausnahmezustand: Die brasilianische Küstenmetropole erlebte den tödlichsten Polizeieinsatz ihrer Geschichte

Rund 2.500 Polizisten gingen in zwei Armenvierteln im Norden der Stadt - Alemão und Penha - gegen das mächtige Kartell Comando Vermelho, also Rotes Kommando, vor. Rund 300.000 Menschen leben dort.

Unterstützt wurde die Einheit von Hubschraubern, gepanzerten Fahrzeugen und Drohnen. Die Bilanz der stundenlangen Gefechte: Mindestens 81 mutmaßliche Gangmitglieder wurden festgenommen, mehr als 90 Schnellfeuerwaffen und mehr als 200 Kilogramm Drogen beschlagnahmt. Zunächst sprachen die Behörden von 64 Toten, darunter auch vier Polizisten. Auch Zivilisten waren ins Kreuzfeuer geraten und verletzt worden. 

Doch am Mittwochmorgen wurde das Ausmaß der brutalen Gewalt noch deutlicher:

Bewohner der Favela Penha bargen in den frühen Morgenstunden Dutzende weitere Leichen. Sie wurden u. a.  in einem Waldabschnitt gefunden, in dem es am Dienstag zu heftigen Gefechten gekommen war. 

Später teilten Beamte mit, die Zahl der vorläufigen Todesopfer sei auf mindestens 132 gestiegen. Die Leichen - nur Männer - wurden auf einer Hauptstraße des Viertels abgelegt, damit sie von Angehörigen identifiziert werden können. 

Ältestes Verbrechersyndikat Brasiliens

Beim Comando Vermelho handelt es sich um das älteste und zweitgrößte Verbrechersyndikat des südamerikanischen Landes. Gegründet 1979 im Gefängnis Ilha Grande, stieg es in den 1980er-Jahren in den Kokainhandel ein. Heute kontrolliert das Kartell Schmuggelrouten, Gefängnisse und Elendsviertel, in denen der Staat quasi nicht präsent ist. 

Größter Rivale ist das Kartell Primeiro Comando da Capital (PCC) aus São Paulo, das seinen Einfluss inzwischen landesweit ausdehnt. Laut einer aktuellen Studie der Universität Cambridge lebt ein Viertel der Brasilianer in Vierteln, die von der organisierten Kriminalität beherrscht werden. 

Rio darf "nicht länger Geisel der Gewalt sein"

Obwohl Gewalt in den Elendsvierteln Rios zum Alltag gehört, war die Brutalität des Einsatzes am Dienstag außergewöhnlich: Gangmitglieder antworteten auf das massive Polizeiaufgebot mit heftigem Schusswechsel. Über Drohnen ließen sie Sprengsätze auf sie fallen. Sie entführten Busse und blockierten damit Straßen, auch wichtige Verkehrsadern der Stadt. Über WhatsApp-Gruppen sollen sie Essenslieferanten gezwungen haben, sich an den Blockaden zu beteiligen. 

Das Chaos griff auch weit über die Elendsviertel hinaus um sich: Der Flughafen Galeão musste zeitweise schließen, mehrere Schulen und Universitäten blieben verriegelt. Der öffentliche Nahverkehr brach in großen Teilen zusammen, viele Menschen flohen kilometerweise zu Fuß über Autobahnen, um nach Hause zu gelangen. 

Der Anführer des Comando Vermelho, Edgar Alves Andrade, konnte nicht gefasst werden. Auf ihn ist eine Belohnung von 100.000 Reais (rund 18.600 US-Dollar) ausgesetzt. Gegen ihn wird wegen mehr als 100 Morden ermittelt.

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Gouverneur Castro bei einer Pressekonferenz am Dienstag.

"Intelligent geplante Maßnahme"

"Das ist kein gewöhnliches Verbrechen mehr, es ist Drogenterrorismus“, begründete der Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro, Cláudio Castro, auf einer Pressekonferenz das Vorgehen. Die Operation, die er als Erfolg bezeichnet, sei ein Jahr lang geplant worden. Er kündigte zudem an, "den Kampf gegen das organisierte Verbrechen entschlossen fortzusetzen" und den Einsatz des Militärs beantragen zu wollen, da die eigenen Kapazitäten nicht mehr ausreichen.

Auch der Sicherheitsminister von Rio de Janeiro, Victor Santos, sprach im Sender TV Globo von einer "notwendigen, intelligent geplanten Maßnahme, die fortgesetzt wird". Er bedaure zutiefst, "dass Menschen verletzt wurden". 

Rios Bürgermeister Eduardo Paes erklärte auf Social Media, die Stadt könne und werde "nicht länger Geisel krimineller Gruppen bleiben, die Angst und Schrecken auf den Straßen verbreiten". Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva wird nach seiner Südostasienreise in Brasília über das weitere Vorgehen beraten.

Police operation against gangs leaves dozens dead in Rio de Janeiro

81 mutmaßliche Gangmitglieder wurden am Dienstag festgenommen.

Kritik von Menschenrechtsorganisationen

Der Polizeieinsatz löste unterdessen heftige Kritik bei Menschenrechtsorganisationen aus: César Muñoz, Direktor von Human Rights Watch (HRW) in Brasilien, bezeichnete ihn als "Desaster“ und forderte die Staatsanwaltschaft auf, die Umstände "jedes einzelnen Todesfalls“ zu untersuchen. Auch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte zeigte sich "entsetzt“. Amnesty International schrieb in einer Mitteilung: "Öffentliche Sicherheit wird nicht mit Blut erreicht“.

Tatsächlich kommen in kaum einem anderen Land der Welt so viele Menschen bei Polizeieinsätzen ums Leben wie in Brasilien. Im Vorjahr töteten Sicherheitskräfte in dem südamerikanischen Land 6.243 Menschen, das sind durchschnittlich 17 Menschen pro Tag. In den USA waren Polizisten im vergangenen Jahr für den Tod von 1.378 Menschen verantwortlich.

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