Riesenprozess in Frankreich: Chirurg soll 300 Kinder missbraucht haben

Riesenprozess in Frankreich: Chirurg soll 300 Kinder missbraucht haben
Joël Le Scouarnec soll sich über Jahrzehnte hinweg vor und nach Operationen an - meist betäubten - Minderjährigen vergangen haben.

Er war ein renommierter Chirurg, galt als distanziert, aber höflich, als eine Vertrauensperson. Das könnte der frühere Arzt Joël Le Scouarnec schamlos ausgenutzt haben. Ihm wird vorgeworfen, jahrzehntelang hunderte minderjährige Patienten, die meist unter Narkose standen, sexuell missbraucht oder vergewaltigt zu haben.

Am Montag beginnt in Vannes in der Bretagne die Verhandlung gegen den 74-Jährigen, der im Laufe seiner Karriere in mehreren Krankenhäusern im Westen Frankreichs praktizierte. Aus Platzgründen findet sie in mehreren Sälen in einem ehemaligen Hochschulgebäude statt.

Manche Fälle schon verjährt 

Erst Ende des vergangenen Jahres hatte der Mammut-Prozess wegen der Vergewaltigung der heute 72-jährigen Gisèle Pelicot in Avignon durch 51 Männer, darunter ihr eigener Ehemann, das Land erschüttert. 

Nun folgt die Aufarbeitung des bisher größten bekannten Kindesmissbrauchsfalls in Frankreich. Der Prozess ist auf vier Monate angesetzt. Le Scouarnec droht die Höchststrafe von 20 Jahren.

Um 299 Fälle von sexueller Nötigung oder Vergewaltigung von Jungen und Mädchen zwischen 1989 und 2014 wird es gehen. Es gab noch weitere, die überwiegend inzwischen verjährt sind, denn die Ermittler hatten sogar 343 wahrscheinliche Betroffene ausfindig gemacht. „Für sie ist es eine doppelte Bestrafung, sexuell missbraucht oder vergewaltigt worden zu sein, aber nicht als Opfer eindeutig anerkannt zu werden“, sagte die Anwältin Francesca Satta.

Bereits zu 15 Jahren verurteilt 

In einem ersten Prozess im Dezember 2020 war der Spezialist für Darm- und Viszeralerkrankungen bereits wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung von zwei Nichten, einer vierjährigen Patientin und einem sechsjährigen Nachbarsmädchen zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden.

Die Anschuldigungen der Nachbarin im Jahr 2017 führten zu einer Durchsuchung seines Hauses. Dort fand die Polizei Sexspielzeug, große Puppen sowie in seinem Computer und in handgeschriebenen Notizbüchern chronologisch geführte Listen seiner Opfer. Die Taten, die er demnach oft vor oder nach Operationen begangen hatte, waren darin genau beschrieben. Sprach er bei Verhören von reinen „Fantasien“, so schrieb er selbst in seinen Aufzeichnungen: „Ich bin pädophil.“ Rund 300.000 Fotos und Videos von Kindesmissbrauch hatte er gespeichert.

Manche Opfer erinnern sich 

In der Anklageschrift beschreibt die Staatsanwaltschaft ein Gefühl der „Allmächtigkeit“, das Le Scouarnec gehabt haben müsse. Manche Opfer erinnerten sich an die Vorfälle, doch viele waren betäubt und erfuhren erst davon, als die Polizei sie kontaktierte. Von zwei Männern heißt es, sie hätten ihr Trauma nie verarbeitet und sich das Leben genommen.

Eine Frau sagte französischen Medien, sie habe die sie betreffenden Berichte nicht lesen können: „Stellen Sie sich vor, ein Hardcore-Pornobuch zu öffnen und zu wissen, dass es um Sie als Kind geht.“ Heute kehrten ihre Erinnerungen zurück, auch jene an den „eiskalten Blick“ ihres Peinigers. Sie frage sich, wie er so lange ungestört in direktem Kontakt mit Minderjährigen praktizieren konnte.

Um mögliche Versäumnisse der Behörden und der regionalen Ärztekammer aufzudecken, haben zwei Opfervereine Klagen gegen Unbekannt eingereicht. Denn nach einer Warnung der US-Sicherheitsbehörde FBI wurde Le Scouarnec 2005 wegen Besitzes von kinderpornographischen Material zu einer mehrmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt, was nur verspätet oder ohne Folgen an seine Arbeitgeber gemeldet wurde, welche nicht reagierten. Auch den Hinweisen eines misstrauischen Kollegen wurde nicht nachgegangen.

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